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Freiheitsdrang

Kind 1 lernt laufen.
Das Kind zieht sich am Hocker hoch. Fliesenboden. Der Puls steigt. Alarmbereitschaft, um das Hinscheiden der Brut durch den natürlich katastrophalen Aufprall im Fall des Falles zu vermeiden.
Ein Schritt der Brut. Stolz! Ein Wanken. Puls!

Kind 2 lernt laufen.
Das Kind zieht sich an irgendwas hoch. Nicht zu sehen, weil du es nicht im direkten Blickfeld hast. Es rummst, an der Klangfarbe des Gesangs danach, so es denn welchen gibt, wird entschieden, ob ein Eingreifen notwendig ist.

Gähnen, Kaffee. Und mach voll die Tasse.

Warum eigentlich so kompliziert?

Ich weiß ja nicht, wie es euch anderen Mehrfacheltern so geht. Ich bin mit dem zweiten Kind um Welten entspannter geworden. Dreimal hat er beim Überkrabbeln der Querstrebe unter Tisch frontal mit dem Gesicht gebremst, danach hatte er den Dreh raus.

Ein paar mal Umkippen, dann lernte er, sich fast in der Eleganz eines Ringers abzurollen, um den Kopf vor dem wenig attraktiven Aufprall auf dem ebenso wenig weichen Fliesenboden zu schützen.

Brot zu essen? Nudeln? Während beim Fleischbärchen noch bravouröses Kopfkino mit Erstickungsfantasien unter der betont-ruhigen Fassade Aufführung um Aufführung feierte, kriegt der kleine Bruder seit Monaten Stückgut zur eigenhoheitlichen Weiterverwendung. Manchmal popelst du ihm halt ein bisschen Gartendeko aus dem Mund, aber hey, er hat Spaß!

Unkompliziert handeln macht unkompliziertes Verhalten

Wenn du den Nachwuchs einfach mal machen lässt, dann nutzt er die Freiheit auch: Während wir beim Fleischbärchen noch beobachteten, wie sich ihre Fortschritte in Sachen Entwicklung so angehen, steht beim Bub die Dauerleihgabe der Nachbarn „Oje, ich wachse!“ verstaubend im Regal. Einfach wachsen lassen, die Evolution wird da schon was programmiert haben.

Als ich vorgestern mit dem Bub zum Mittag in die Firma fuhr, waren die KollegInnen nachhaltig beeindruckt über den sichtlich gelassenen Umgang. Er aß wie ein Weltmeister, war aufmerksam, und als das Foodkoma einsetzte, sank er einfach zufrieden in den Wagen und ward nur noch als Häufchen gesehen.

Trotz Kantinenlärm, trotz ihm neuer Umgebung. Selbst als ich mich kurzzeitig verabschiedete, um mir selbst auch was für zwischen die Rippen zu besorgen, blieb Kollege Junior (zu dem Zeitpunkt noch wach) tiefenentspannt im Refugium der verbliebenen Anwesenden.

Mehr Potenzial für alles

So kam es denn auch, dass der Bub vor wenigen Tagen anfing zu laufen. Und das seitdem mit wachsender Begeisterung weiter übt – ohne die Hände von Erwachsenen einzufordern, um Sicherheit zu haben. Das war mit seiner Schwester noch deutlich anders, allerdings erinnere ich mich auch daran, ihr wesentlich häufiger die Hand angeboten, wenn nicht gar aufgedrängt zu haben.

Das macht natürlich auch, dass der Freund des Laufens seine selbsterwählten Gehhilfen quer im Haus verteilt parkt.

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Du kannst sie wegräumen, du kannst sie lassen, egal: Sein Freiheitsdrang kennt kaum Grenzen. Und so folgt denn auch, was folgen muss: Der nicht mal Einjährige nutzt seine Geh-, Schub- und seit gestern Besteigemöglichkeiten, um Alcatraz in den Schatten zu stellen.

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Zum Glück hat er neben den rein physischen Fähigkeiten durch den ein oder anderen Sturz auch zumindest eine Ahnung von Höhe mitgenommen, weswegen er sich nicht direkt über die Reling wuchtete (zwei Abstürze aus dem Familienbett haben wohl gereicht). Nein, da wir ihn auch im Umgang mit allen möglichen Dingen einfach häufig machen lassen, wollte der Fummelfred eleganterweise das Tor zur verlockenden Freiheit ähnlich filigran mit dem Mechanismus öffnen, wie wir das normalerweise tun.

Abfangen statt Abhalten

Ich für meinen Teil hab ich mittlerweile darauf verlegt, die Kids nicht mehr von „gefährlichem Verhalten“ abzuhalten, sondern sie im Havariefall eben abzufangen. Das – und da bin ich Realist genug – wird nicht immer klappen. Aber ein Leben ohne Risiken ist auch eines ohne Spaß.

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Wenn Monsieur es cool findet, „Paraden abzunehmen“ statt konventionell im Wagen zu sitzen: Soll er. Die Rückenlehne ist nicht fest, der Untergrund uneben, Kurven kann er nicht vorhersehen – aber er meistert es irgendwie. Und die zwei Unfälle (einmal vorn-, einmal hintenüber) konnte ich mit mehr oder weniger grazilen Hechtsprüngen und Abrollen des Juniors über Papas Fuß abmildern. Es hinderte ihn nicht daran, wieder so mit dem Wagen zu fahren, wohl aber am neuerlichen verunfallen. (Jedenfalls bisher.)

Fazit: Gut für die Nerven, gut für die Brut

Mir tut es nur gut. Dem Bub augenscheinlich auch. Die Große sing noch gern ihr „Geht nicht!“-Lied nach dem ersten halbherzigen Versuch, aber das ist eher unser Verschulden – wer anfänglich rumhelikoptert, braucht sich nicht wundern, wenn der Nachwuchs das gewohnte Verhalten einfordert. Das wird noch ein wenig dauern, aber ich merke bereits erste Veränderungen bei ihr.

Und wie handhabt ihr das so? Habt ihr euer eigenes Verhalten auch mit dem zweiten, dritten, vierten Kind verändert? Habt ihr neben dem Verhalten vielleicht auch generell die Haltung geändert? Und wenn ja: Wieso?

Ich freu mich auf eure Kommentare. 😉

Autor: steffen

Lebt. Liebt. Streitet.

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