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140+. Ein offener Liebesbrief.

Als ich vor mehr als zehn Jahren einer jungen Lehramtsstudentin über den Weg lief, die hinter ihrer Fassade der braven Tochter mit beachtenswertem Geigen-und Bratschenspiel ein großes Herz verbarg, ahnte ich nicht, welch steinigen Weg die Freilegung dieses Juwels nehmen würde. Noch, was damit verbunden auch mit mir passieren würde.

Die eigene Erweckung

Auf den Tag genau fünf Jahre vor dem Kennenlernen beim Kaffee begleitete ich einen jungen Mann auf seinem letzten Weg. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass ich quasi gefühlsleer in einer Art technisiertem Ausnahmezustand funktionierte, darauf achtend, dass die empfindlichsten Seelen unserer Familie die letzten Sekunden nicht mit ansehen konnten.

Nachdem die Männer in Schwarz wieder gegangen waren, setzte ich mich auf mein Rad und fuhr los. Tief sog ich die Luft ein, auf die Unterbewussten Körperfunktionen achtend. Ich wollte nicht nur funktionieren. Ich wollte ein Versprechen umsetzen, auch und gerade an diesem Tag. Es gelang mir nicht. Noch nicht.

Bei der Beisetzung wenige Tage später schließlich war es so weit: All die Beileidsbekundungen ließ ich Ergriffenheit zeigend über mich ergehen, dezente Tränen könnte ich vorweisen.

Dann kam Daniel. Der Frauenschwarm, den ich einst auf Geheiß einer Klassenkameradin in der Disco für sie anquatschen sollte. Und der sich zu einem der wichtigsten Menschen in meinem Leben entpuppte und mir auf seine Art zeigte, dass familiäre Gefühle nichts mit Blutsverwandschaft zu tun haben.

Er sagte nichts.
Er nahm mich in den Arm.
Er hielt mich fest.

Und ich ließ los. Alles, nur ihn nicht mehr. Den Schmerz über den Verlust, die Verantwortung, die Kontrolle, unter die ich mich selbst gestellt hatte, alles fiel von mir ab, in seine Arme. Ich fühlte mich geborgen, aufgehoben, getragen – wie nie zuvor in meinem Leben. Bedingungslos.

Damit brachte ich den ganzen Ablauf der Zeremonie durcheinander, bis sich die nachfolgenden Kondolenten schließlich dazu entschlossen, mich zu übergehen. Und es war mir scheißegal. In diesem Augenblick verspürte ich das erste Mal in meinem Leben bewusst bedingungslose Liebe. Hier war jemand da, für mich, genau so wie ich es aus meinem tiefsten Inneren brauchte.

Die Unbeschreiblichkeit von Gefühlen

Diese Berührtheit ist das Wertvollste, was ich kenne. Und die schier unglaubliche Kraft, die daraus erwächst, wollte ich weitergeben. So vielen Menschen wie nur irgend möglich. Vielleicht wird aus dieser Beschreibung auch ersichtlich, warum es für mich das Schönste ist, anderen Menschen ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern.

Zurück zur Studentin.

Wie konnte ich diesem Wesen begreiflich machen, was ich für sie, aber auch für andere empfinde? In maximaler Offenheit sagte ich ihr damals nicht die drei großen Worte, sondern drei Sätze, als ich ihr einen Schlüssel für die hastig gesuchte Bleibe gab: „Komm, wann du willst. Geh, wann du willst. Fühl dich zu nichts verpflichtet.“

Und doch spürte ich eine Art von Kontrolliertheit, die ich nicht einordnen konnte. Woher kam das? Klar, ihre Eltern waren wenig begeistert davon, dass sie einen für sie Wildfremden „aus dem Internet“ mitbrachte. Der, für das kirchlich intensiv involvierte Elternhaus schwer vorstellbar, ungetauft und glaubensfrei durch die Welt lief und seine Unkonventionalität auslebte. Der dem einzigen Kind des Hauses riet, auf ihr Herz zu hören, was ihr Studium anging, worauf sie dieses aufgab und eine Lehre zur Handwerkerin anstrebte. Der dem Druck des Elternhauses und die Empörung über die vermeintlichen Eingriffe in das Leben der Tochter widersprach und damit einen Gegenpol aufbaute.

Auch die kurzzeitige psychologische Unterstützung half zunächst nur, mit der momentanen Situation irgendwie klarzukommen. Die Kontrolliertheit, die Verletzlichkeit der mittlerweile das Geigenbauhandwerk erlernenden Holden schwand nicht. Drei Jahre Pendeln zwischen ihrem Ausbildungsort und meinem Arbeitsort machten es auch eher schlimmer.

Gemeinsam einsam

Als wir schließlich 2010 zusammenzogen, beide im gleichen Ort arbeitend, jeden Abend gemeinsam verbringend, dachte ich, das würde schließlich heilen.

Tat es nicht. Wir lebten miteinander, nebeneinander. Den gesellschaftlichen Konventionen entsprechend auch füreinander, aber noch immer war da das Gefühl, dass etwas Gläsernes zwischen uns steht. Verbindendes, wie der Bau unseres gemeinsam geplanten Hauses, das erste Kind, das zweite – nichts schien diese unsichtbare, nicht in Worte zu fassende Distanziertheit zu beseitigen.

Ich versuchte, mich in Arbeit, mich begeisternde gesellschaftliche Themen und Zeit für und mit den Kindern zu ertränken. Wenn abends die Kinder schliefen und die Arbeit ruhte, betäubten wir uns mit Serien, nebeneinander, konsumierend.

Bahnstreik mit Folgen

Bis ich schließlich nach der re:publica 2015 in Berlin dort wegen eines Bahnstreiks ungeplant ein Familienbloggerevent besuchte. Mama Notes, die ich bereits persönlich kannte, und Frollein NullZwo mit ihrer absolut bezaubernden Jüngsten, die ich eigentlich nur auf einem geplanten Frühstück kennenlernen wollte, strahlten die Authentizität, die Direktheit, die Offenheit aus, die ich so sehr schätze. Das bewog mich schließlich, den beiden auch auf das Event zu folgen.

Dort angekommen, lief mir ‚das gewünschteste Wunschkind‚ über den Weg, genauer gesagt, eine der Autorinnen des Blogs, auf dem wir viel Hilfe gefunden hatten, was den Umgang mit unserer vermeintlich schwierigen Tochter angeht.

Stilles Revival

Bis zu diesem Zeitpunkt bloggte ich eher unregelmäßig über das, was mich bewegte. Oft wütend, meist mit Logik agierend. Und die Idee, zu einem Elternblogger zu mutieren, weil ich für mich das Elternsein als aktuelle „Prio 1“ ausgerufen hatte, erschien mir zunächst logisch betrachtet nicht sonderlich verlockend. Wie sollte ich da meinen Brass sinnvoll abladen, so wie das vorher als Teilzeitpazifist möglich war?

Doch der Vorschlag vom Wunschkind ließ mich nicht los. Es war nicht die Logik, die da arbeitete. Die drei Damen hatten mit ihrer Art etwas in mir anklingen lassen, dass ich seit bald 15 Jahren so nicht mehr verspürt hatte. Nur eben viel graziler, sanfter und indirekter:

Das Innerste.

Rasante Entwicklung

Mehr und mehr tauchte der Name Juul in den Diskussionen auf, je tiefer die Holde und ich im Universum der Elternblogger eintauchten. Doch die Zitate schüchterten eher ein, weil sie das Gefühl vermittelten, das man es doch gefälligst einfach hinbekommen sollte, ‚perfekte Eltern‘ zu sein. Die Probleme mit unserer Großen wurden auch nicht weniger. Also beschlossen wir, sowohl die Elternberatung als auch ein Buch von Juul zu Rate zu ziehen: „Dein kompetentes Kind„.

Endlich. Worte.

Und im Eiltempo kam, was mir seit fünfzehn Jahren fehlte – Erkenntnis, Worte, und vor allem: Verständnis. Und ihnen direkt auf dem Fuße folgend: Schier unendliche Dankbarkeit und Zuneigung für die Schlüsselfiguren, die den Weg bereitet und mich begleitet hatten.

In stundenlangen Diskussionen an den Abenden sitzen wir seitdem zusammen, die Holde und ich. Wir kamen kaum noch zum Schreiben. Das ist auch nicht groß verwunderlich: Es gibt viel aufzuarbeiten. Zwischen uns, aber auch und vor allem jeder mit sich selbst. Kaum, dass die Erkenntnisse gereift und der Groschen bei uns gefallen war, kam es auch, dass die Situation mit unserer Tochter sich entspannte.

Kleine Spiegel, große Kraft

Und warum? Weil wir das Prinzip der bedingungslosen Liebe endlich kapiert hatten. Das, was unsere Kinder wie selbstverständlich von uns einfordern. Sie wollen unser Innerstes sehen, verstehen, kennenlernen. Und zeigen uns ihres, weil es in ihrer Natur liegt. Absolut und unverstellt. Und mit einer tiefen Demut, Dankbarkeit und unglaublich großer Liebe wurde plötzlich klar, was der Auslöser der Probleme mit der Tochter waren:

Wir selbst.

Die kleinen empathischen Wesen, die sich nur über Gefühle ausdrücken können, waren und sind unsere größte Hilfe, unsere eigenen Fehler zu entdecken. Sie signalisieren direkt, wenn etwas nicht stimmt, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Ja, kein Kind schreit ohne Grund. Endlich, endlich habe ich es begriffen, im Kopf wie im Herzen.

Ein langer Weg

Es bleibt viel zu tun: Begreifen ersetzt keine Aufarbeitung, Beschreiben kein Heilen. Es wird Zeit brauchen, viele Gespräche, bestimmt Tränen, professionelle Begleitung.

Doch der Anfang ist gemacht. Der erste Schritt ist der schwerste, und er hat viel Zeit und Energie gekostet. Umso wertvoller ist es zu erkennen, dass er getan ist.

Und all denen, die mich – uns – auf diesem Weg der Erkenntnis begleitet haben, sei auf diesem Wege das Innerste geöffnet und geschenkt. Daniel, Anne, Sonja, Susanne, Katja, Adrian – und vor allem Emmi:

Ich liebe euch. Aus tiefstem Herzen.

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Autor: steffen

Lebt. Liebt. Streitet.

19 Kommentare

  1. Ach Nachbar – ich kann als Kindlose hier letztlich wenig beitragen – nur: tief berührt. Und Emmi ist wirklich ein ganz besonderer Schatz.

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  2. Lieber Steffen!

    Schon lange schleiche ich um eine Antwort auf diesen Deinen Text herum – nicht in Worte fassen könnend, was in meinem Kopf herumschwirrt.

    Ich freue mich sehr, ein Anstoss gewesen zu sein, der Euch zum Erkennen und Verstehen gebracht hat, auch wenn ich selbst nicht genau weiß, wie ich das angestellt habe. Auch ich habe mich als Mutter erst finden müssen, meinen eigenen Weg mit meinen Kindern zusammen. Und der verändert sich immer noch!

    Ich weiss, dass es Menschen gibt, in deren Anwesenheit man sich direkt wohl fühlt. Die etwas haben, was bei vielen anderen fehlt. Und das spürte ich schon in Berlin, aber noch viel mehr vor ein paar Wochen bei Euch.

    Ich danke dem Universum für diesen wunderbaren Zufall, der dafür sorgte, dass sich unsere Wege in Berlin kreuzten und freue mich sehr auf unser Wiedersehen morgen 🙂

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