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Besorgte Bürger, spürt die Signale!

Bild von Thomas Kohler, https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Sie sorgen sich.

Um ihre Zukunft, ihre Städte, ihr Sozialsystem. Überhaupt gibt’s Stirnrunzeln gern gratis: Die Politiker sind doof, niemand hört mehr zu, die Systempresse druckt alles, was ihr Wirtschaft und Politik diktieren.

Lasst uns mal hypothetisch in den Dialog treten:

Man kommt man sich in seinem Hamsterrad zwischen Niedriglohn, privater Altersvorsorge und weltweiter Wirtschaftskonkurrenz vor wie das letzte Stückchen Scheiße. Das muss man doch wohl noch sagen dürfen!

Die Schuldigen

Irgendwer muss das Ganze verbockt haben. Diese wirtschaftshörigen Politiker, die verschleiernde Lügenpresse, die das unterstützt. Und damit wir noch mehr in unseren Löhnen gedrückt werden können, werden Horden von Ausländern ins Land gelassen: Zum Arbeiten kommen die wenigsten, gegen die haben wir ja gar nichts. Aber der große Anteil Sozialschmarotzer, hier, die Politiker geben es ja sogar zu: Die kommen nur zum Abgreifen.

Und ich muss das mit meinen Steuergeldern auch noch finanzieren! Und selbst die, die arbeiten, die sich integrieren, die gehen ja freiwillig für weniger los und drücken damit auch noch meinen Lohn.

Und wehe, wir mucken auf. Wehe, wir wehren uns gegen dieses System. Dann sind wir plötzlich gleich Nazis.

Politiker, Presse, Wirtschaft, Flüchtlinge – die Lage

Seit wann hören Politiker eigentlich nicht mehr zu? Das dürfte ungefähr mit dem Zeitpunkt korrelieren, an dem die Bürger zur Aufrechterhaltung der Funktionsweise eines Staates nicht mehr die maßgebliche Stimme waren: Spätestens an dem Punkt, an dem die Wirtschaftlichkeit, die marktkonforme Demokratie in den Vordergrund rückten. Sie mögen zwar immer noch zuhören, allein, entscheidenen Einfluss auf ihr mehrheitliches Handeln hat es nicht mehr.

Die Presse funktioniert in einem kapitalistischen System wie jeder andere Betrieb auch: Mit einer Gewinnerzielungsabsicht und einer wirtschaftlichen Abhängigkeit (Abos, Werbung). Dem werden zuerst die inhaltliche Ausrichtung (es braucht einen Markt potenzieller Lesender), früher oder später auch die Gestaltung (SEO, Ansprache-Optimierung, Automatisierung) untergeordnet.

Die Wirtschaft – mit reellen Gütern wie auch die Finanzindustrie – kennt keine Grenzen mehr. Ethisch-moralische Prinzipien sind durch die jeweilige Gesetzeslage potenzieller Investitionsstandorte definiert. Darüber hinaus besteht für in unbegrenzter Dauer lebensfähige juristische Personen keine zwingende Notwendigkeit weiterer Regulierungen: Produziert und investiert wird dort, wo sich gemäß der Gewinnerzielungsabsicht die größten Profite ergeben. Und ab einer bestimmten Größe bzw. eines ausreichenden Einflusses ist so eine juristische Person „too big to fail“ – womit sich ganz neue Perspektiven zur Sozialisierung von Verlusten ergeben. Absolute Grundlagen des Kapitalismus, wie sie bereits Karl Marx ableitete.

Flüchtlinge gibt es, seit Menschen existieren. Zumeist sind es grundlegendste Dinge, die zur Flucht führen: Angst um Leib und Leben, sei es aus Unterversorgung, Unterdrückung oder aus wirtschaftlicher Not heraus. Jenseits von Naturkatastrophen sind es also durch Menschen verursachte Einflüsse, die zu Flucht führen. Wer flüchtet, flieht in aller Regel vor etwas und nicht zu etwas hin.

Die Motivation

Stimmt also alles?

Nur weil PolitikerInnen Zwängen unterliegen heißt das nicht, dass sie keine guten Absichten verfolgen. Klar gibt’s auch ein paar empathiebefreite Arschlöcher, die nichts besseres zu tun haben als sich selbst an die erste Stelle zu setzen. Deswegen braucht man das aber nicht allen zu unterstellen, sonst ist die Unterstellung, ihr seid ja alle Nazis, genauso zulässig. Einfach ne dumme Verallgemeinerung. Einfache Faustregel:

Je mehr etwas vereinfacht wird, desto weniger trifft es zu.

Bei JournalistInnen gibt’s mindestens genauso viele unterschiedlichen Überzeugungen wie in der Politik. Jenseits der Rahmenvorgaben dessen, die das publizierende Medium macht, wär es also ein guter Anfang, sich ein Bild vom jeweils schreibenden Wesen zu machen und seine Intention zu hinterfragen. Ist vielleicht nicht einfach, hilft aber. Und was das Einfache angeht, davon hatten wir’s ja grad schon.

Das Wirtschaftssystem wird sich nicht freiwillig ändern. „Wenn du willst, dass sich etwas ändert, dann mach es halt anders.“ – Den Tipp gab mir eine weise Frau, aber schon Ghandhi sagte sinngemäß das gleiche. Solang du dich und dein Leben primär über Geld definierst, bist auch du Teil dieses Wirtschaftssystems und vertrittst damit auch dessen Werte.

Die Flüchtlinge versuchen zuerst mal, zu überleben. Ob und was und wieviel ihnen nach hier geltendem Recht zusteht, wissen zunächst die wenigsten. Auch hier gilt: Ein paar egoistische Exemplare machen noch nicht aus jedem Flüchtling einen schlechten Menschen. Selbst wenn sie mit für dich absolut schrägen Fragestellungen um die Ecke kommen, heißt das lange nicht, dass sie das im gleichen Wertesystem wie du tun: Die Frage nach einer Hochzeit an eine Unbekannte zum Beispiel ist zumeist der verzweifelte Versuch, einen sicheren Aufenthalt hier zu erlangen.

Die Möglichkeiten

In der Politik hilft nur: Rede mit deinen WahlkreisvertreterInnen. Persönlich. Oder geh gleich selbst in die Politik, wenn dir das Feld liegt. Fordere Transparenz politischer Entscheidungen bzw. lebe sie selbst. Ein gewaltsamer Umsturz ist immer mit ner Menge unschuldiger Opfer verbunden, und ne Monarchie kann zwar wesentlich effizienter sein als ne Demokratie – sie steht und fällt aber mit der herrschenden Persönlicheit. Das letzte aus dieser Mottenkiste hatten wir hier zwischen 1933 und 45.

Beim Journalismus isses sehr einfach: Lies halt weder BLÖD noch andere Springer-Blätter, dann erledigt sich das noch fixer als eh schon mit sinnarmer Berichterstattung. Druckt ein Blatt propagandistischen Blödsinn, der Hass und Angst sät, prangere das an, schreib drüber, verbreite es in den sozialen Medien. Ändert sich nix – nicht lesen, nicht teilen, nicht kaufen, und all das anderen empfehlen.

Wirtschaft: Kauf lokale Produkte, wenn’s irgend geht. Besonders bei Lebensmitteln. Und die Brötchen halt beim Bäcker und nicht bei Lidl. Wenn du sie dir anders vorstellst, wird deine Kritik dazu beim Bäcker auch prinzipiell eher Früchte tragen als beim Discounter.

Flüchtlingen kann man übrigens zuhören. Mit ihnen reden. Sie fragen, was sie bewegt. In aller Regel nehmen sie dir dafür nicht aus lauter Dankbarkeit deine Sachen ab, sondern fühlen sich vielleicht nicht mehr ganz so fremd in einer ihnen unbekannten Welt. Hast du schon mal jemandes Dankbarkeit gespürt? Ist das etwas, was dich bewegt?

Finale

Ängste zu haben ist etwas normales. Sich ihnen hinzugeben nicht. Aufgrund vereinfachender Argumentationen andere auszugrenzen, abzukanzeln oder ihre Bedürfnisse als irrelevant zu ignorieren ist nichts anderes, als Angst auszuleben. Und dabei ist sie ein meist schlechter Ratgeber.

Du kannst es dir einfach machen. Sagen, dass die Flüchtlinge „uns“ überfordern. Dass die Politik nichts tut. Dass der „Islam eine gewaltverherrlichende Religion“ sei. Dass die Wirtschaft nur an Profiten interessiert sei. Dass „Ausländer den Durchschnitt der Arbeitslöhne drücken“. Dass „Ausländer häufiger kriminell“ seien.

Damit bist du ein Mensch, dessen sozialer Horizont nicht über den Tellerrand der eigenen Nation hinausreicht. Ein sozial denkender Mensch vielleicht, aber nur auf nationaler Ebene. Sowas nennt man gemeinhin Nationalsozialist.

Oder kurz: Nazi.

 

Autor: steffen

Lebt. Liebt. Streitet.

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