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Hinterfragt eure Rituale!

„…It’s that time of the year – Steht Ritualkrams vor der Tür, geht’s rund. Das hat in der Struktur etwas von Glaubensdiskussionen.“
Regelmäßig zum Jahresende erhitzen sich die Gemüter. Geschichten rund um Familienstreits und -stress an Weihnachten machen die Runde. Die Adventszeit, an und für sich gedacht als Zeit der Besinnung, artet selbst in ein Streitobjekt aus – Stichwort #Adventskalenderbasteldebatte. Ganz zu schweigen vom konsumlastigen Geschenkejagen, das dem Einzelhandel seine „Hauptsaison“ beschert. Woher kommt das?

Eigentlich isses fast Wurst, worüber sich Menschen so alles in die Haare bekommen können. Ob Adventskalender oder nicht, oder wenn ja, was für einen und mit welchem Aufwand… oder aber doch lieber Geschirrspülereinräumen (ja/nein, wie, etc…), Geburtstage, Feiertage, Religionsauslegungen? Will ich was schenken, muss ich das, und unabhängig davon: was überhaupt? Streiten lässt sich über so gut wie alles.

Ohne Hinterfragen streitet es sich besser

Gerade an mit Ritualen verbundenen Tagen und Zeitpunkten (da sind Adventszeit, Feier- und Geburtstage, aber auch Jahrestage, Firmenfeiern, Hochzeiten, Beerdigungen, Nachbarschaftsfeste usw. gute Beispiele dafür) entzünden sich häufig Streitereien. Ich halte Rituale und ihr Wesen dabei für einen wesentlichen Grund. Warum?

Sie werden seltener hinterfragt.

Rituale schaffen Sicherheit… und Verwirrung.

Ich fragte vor einiger Zeit auf Twitter eine einzelne, offene Frage:

Eine ganze Reihe von Antworten trudelte ein, viele der Reaktionen bezogen sich – dem Elternkontext meiner Filterblase geschuldet – auf Kinder.

  • Für Kinder: Orientierung. Ohne Zeitgefühl und Uhr-lesen-können, helfen Rituale, den endlos wirkenden Tag einzuteilen. (OekoHippie)
  • Kinder mögen Wiederholungen. Da sind Rituale ein gutes Mittel. Ich denke, Kinder greifen gerne nach Ankern, um Halt zu bekommen. (VerflixteAlltag)
  • ich hatte immer das Gefühl, die Perle fordere Rituale ein, weil sie dann das Gefühl hat, sie wisse was passiert. (Perlenmama)
  • Rituale schonen meine Selbstdisziplin: Wenn etwas ritualisiert ist, muss ich mich nicht dazu überreden. (Alena Dausacker)
  • Rituale vermitteln Sicherheit. Verbindlichkeit…. (Momo)

Lernen, Sicherheit, Vertrautheit sollen Rituale ermöglichen – und doch stiften sie Verwirrung: Denn jede/r interpretiert sie anders.

Das ist erst mal nichts überraschendes. Jede/r erlebt Situationen so individuell, wie es nur eben geht. Während die einen Weihnachten mit harmonischem Beieinander im engsten Familienkreis gleichsetzen, ist es für andere vielleicht ein Albtraum an Erwartungshaltungen rund um die richtige Kleidung, das entsprechende Essen und die gefälligst zu zeigende Freude über gleich was da auch immer als Gabe vom Christkind oder dem Coca-Cola-Mann Weihnachtsmann unterm Baum schlummerte.

Die damit verbundenen Emotionen und das Nicht-Hinterfragen – wahlweise auch das Nichtaustauschen über das mit einem Ritual verbundene – haben aber gehöriges Potenzial mit Sprengkraft. Allein die Frage, wo Weihnachten denn nun begangen werden soll, reicht in vielen Fällen schon für einen gediegenen Streit. Und da es zeitlich rundrum noch ein paar mehr ritualbeladene Tage – Advent, Nikolaus, Silvester – gibt, ist bei vielen Familien der Streit schon vorprogrammiert.

Was sind diese Rituale denn nun eigentlich?

Ein Ritual (von lateinischritualis ‚den Ritus betreffend‘, rituell) ist eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt.

Das verrät die Wikipedia dazu. Weiter heißt es:

Sie finden überwiegend im Bereich des menschlichen Miteinanders statt, wo rituelle Handlungsweisen durch gesellschaftliche Gepflogenheiten, Konventionen und Regeln bestimmt und in den unterschiedlichsten sozialen Kontexten praktiziert werden…

Regeln, Normen und Konventionen also.

Ritualisiert wird also, was wiederholt begangen werden soll. Etwas, das so grundlegend ist, dass es nicht erneut hinterfragt werden muss. Dessen Ablauf nicht jedes Mal aufs neue definiert werden muss.

Das kann etwas sehr einfaches sein – der gemeinsame Kaffee nach dem Feierabend, das Lichtausmachen am Abend, Sport. Oder eben der Ablauf des (zwei- bis) dreitägigen Weihnachtsfestes.

Und da fängt der Schmerz an. Dem groben Daumen nach gibt es auf der Welt ungefähr so viele Weihnachtsrituale, wie es Menschen gibt, die Weihnachten begehen (oder eben auch bewusst nicht). So lang sich der Kreis der Menschen, die einander an so einem Fest begegnen wollen, sich über Inhalte, Form und Wesen des Rituals einig sind, sollte das halbwegs konfliktarm über die Bühne gehen.

Taugen Rituale denn überhaupt zu etwas?

Der Eigenschaft nach sind Rituale für wiederholte Handlungen da – damit eignen sie sich ganz zuvorderst für das kindliche Lernen, das durch Nachahmung und Wiederholung funktioniert. Das ist im Tierreich ganz genauso.

Doch Rituale dienen auch noch für etwas anderes – sie sollen ein Gefühl der Vorausschaubarkeit, der Sicherheit, der Geborgenheit vermitteln. Damit wecken sie Erwartungshaltungen:

  • dass etwas so eintritt/abspielt, wie es erwartet wird
  • dass ein erwartetes Ergebnis zu Buche steht
  • dass sich andere so verhalten, wie es der (eigenen) Interpretation des Ritus entspricht.

Erwartung, Norm, Schublade – alles irgendwie bäh

Rituale sind, abgesehen vom pädagogischen Aspekt des Lernens durch Wiederholung, also normierte, festgeschriebene und gern kontrovers ausgelegte Erwartungshaltungen an Verhalten und/oder Ergebnisse.

Wenn ich das in Motivationsrhetorik ausdrücke: Rituale sind profunde Quellen extrinsischer Motivation – Ich tue Dinge, um etwas zu erreichen, dass durch äußere Umstände definiert wurde.

Natürlich lassen sich auch eigene Rituale definieren. Die orientieren sich dann am konkreten Bedürfnis zu dem Zeitpunkt, an dem ich das Ritual ins Leben rufe. Dem Ritual ist es aber zueigen, dass ich es eben nicht hinterfrage, weswegen es zu einem späteren Zeitpunkt unpassend werden kann, und ich wieder einem extrinsischen Motivator Folge leiste, statt mich um mein individuelles Bedürfnis zu dem dann aktuellen Zeitpunkt zu kümmern.

Die Quintessenz ist: Rituale vereinfachen mir durch ihre Normativität gewisse Aktionen, operieren dabei aber durch genau die Normativität potenziell am konkreten Bedürfnis vorbei.

Sicherheit? Gibt es nicht.

Rituale sollen Sicherheit bringen – um als Anker zu fungieren. Gewohntes zu wiederholen. Und etwas von persönlichem Wert mit Symbolgehalt zu festigen. Und doch können sie genau das Gegenteil bewirken. Woher also Sicherheit nehmen?

Ich glaube, dass es Sicherheit als Absolutum nicht gibt. Es mag subjektiv empfundene Sicherheit geben, die sich umso deutlicher empfinden lässt, wenn sie mit Hilfe eines Rituals gefestigt wird.  Normen, Richtlinien, Gesetze und Rituale – sie alle dienen dem Zweck, ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Allein: Es ist ein Trugschluss.

Schon Marx wusste: De omnibus dubitandum

Nichts ist von Dauer: Zu- und Umstände ändern sich ständig. Menschen entwickeln sich weiter. Das Gefühl, dass nichts bleibt, wie es ist, lässt zwei Möglichkeiten zu: Flieh vor Veränderungen oder stelle dich ihnen, gestalte sie und lass zu, dass du dich genauso wie deine Umwelt änderst und weiter entwickelst.

Ich war vor noch nicht allzulanger Zeit ein Prinzipienreiter. Ich trage noch immer viele Ideale mit mir spazieren und folge ihnen. Aber ich stelle mich auch der fortwährenden Prüfung, ob sie noch tragen. Dieser Diskurs – ergebnisoffen und sachlich konstruktiv – läuft gern auch mal emotional bei mir. Aber auch der Teil gehört eben zu mir, und auch der Teil ist einer steten Änderung und Prüfung unterzogen. Ähnlich, wie es beispielsweise Patricia für sich lebt.

Einfach und unreflektiert: Kannste machen, aber dann isses halt Kacke

So ein durchritualisiertes Leben kann einem enorm viele Entscheidungen abnehmen: Der Ablauf ist definiert, brauch ich nicht drüber nachdenken.

Ändert sich von außen etwas, wird das als Störung des Rituals empfunden – egal, ob es den Ablauf, das Ziel oder die Veränderung durch Beteiligte betrifft. Fertig ist das kleine Einmaleins des Konservativen.

Rituale können Sicherheit geben. Vertrautheit. Geborgenheit. Sie gehören aber genauso geprüft und hinterfragt wie der ganze Rest rundherum. Jeder Mensch ist anders, genauso wie jede Situation.

Und nichts ist so sicher wie der Wandel.

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Autor: steffen

Lebt. Liebt. Streitet.

43 Kommentare

  1. Danke für deine Gedanken. Du kannst nur hinterfragen, was du besitzt: Interessant ist für mich die Überlegung ob ich ein Ritual oder das Ritual sozusagen mich hat. In letztem Fall habe ich nicht wirklich eine Wahl. Gegen ein Ritual zu kämpfen erzeugt lediglich das Gegenteil und ist somit unfrei. Wirklich „freien Willen“ gibt es wohl gar nicht… Mensch-Sein bleibt spannend;) Wie schön

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  2. Ich werde dieses Jahr Weihnachten nicht zu meiner Familie fahren, weil es mir währen und nach dieses Rituals alle Jahre wieder schlecht geht und bin gespannt, wie sich das auf mein Wohlbefinden auswirkt. Auf jeden Fall fühlt es sich jetzt schon spannender an als das, sich bisher an diesen Tagen immer abgespielt hat 🙂

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  3. Dieser Text kommt mir wie gerufen, denn gerade gestern begann dir alljährliche passiv- aggressive, emotionale Erpressung bezüglich des Weihnachtsfest in/ mit der Schwiegerfamilie.
    Ich würde den Text gerne ausdrucken, einige Textzeilen knallrot markieren und der Schwiegermutter mit einem 9-zoll Nagel an die Haustüre hämmern 😉

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  4. Hab deinen Artikel grade nochmal gelesen. Frage: Geht es dir wirklich um Rituale oder vielmehr um Erwartungen? Erwartung ist das Fundament auf dem Enttäuschung gebaut wird. Ich habe für mich gelernt, dass jede Erwartung eine „nicht geführte Kommunikation“ ist und grade im Weihnachtskontext gehe ich davon aus, dass der wirkliche Herzenswunsch aller ist Liebe und Verbundenheit zu haben. Die (wie du sie nennest) Rituale, die wir ungeprüft (und heimlich abgelehnt) übernommen haben sind da vielleicht nicht zeitgemäß. Vielleicht fehlt hier einfach nur echte Kommunikation? Ich werde das mal in meinem Leben überprüfen – nochmals danke.

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  5. Ich denke auch, dass es um Erwartungen geht, die das Ritual bzw sie Tradition erfüllen soll.
    Im meiner Situation ist es zum Beispiel so, dass ich kommunizieren will, aber das Gegenüber will nicht mit in den Dialog treten. Ich biete also 1235532 Angebote und kommuniziere (mache mich also verletzlich), und es wird nur mit „aber ich will das, weil früher war es auch so schön“, abgeblockt.
    Unnütz zu sagen, dass ICH! alleine dann nachher daran schuldig bin, dass ALLE! Eine furchtbare Enttäuschung erlitten haben.
    Ich bleibe standhaft und versuche weiterhin in den Dialog zu gehen. Zeiten ändern sich und Traditionen können auch angepasst werden. Dafür muss dich aber der Erwartungshorizont erweitern – weg vom „ich will“ zu „was kann ich geben“.

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  6. Was sind Rituale anderes als Nicht-Kommunikation? Die Intention mag sogar identisch sein – das harmonische Fest – allein die nicht ausgetauschten Ansichten, was die Beteiligten denn darunter verstehen, taugen zur nachhaltigen Vernichtung jeglicher Besinnlichkeit.

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  7. Ich halte Erwartungen, die kleinen Geschwister der Normen, für genauso kontraproduktiv wie Normen und Vorschriften selbst. Hat auch eine beteiligte Person ein Unbehagen damit, gilt für alle zu hinterfragen und abzuwägen, ob und wenn ja was änderungsbedürftig ist. Die Bereitwilligkeit zur Diskussion/Neubewertung läuft aber meiner Erfahrung nach nur das Verdeutlichen des Problems, dass du mit der Situation hast. Und mit der Fähigkeit deiner Gegenüber, es als konstruktive Kritik am Prozedere zu sehen – und nicht als persönlichen Angriff…

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  8. Ist nicht letztlich das „Einmaleins des Konservativen“ auch wieder nur eine Schublade?

    Für mich persönlich sind Rituale dann besonders wichtig, wenn ich mich selbst sobst vergessen würde. Sie beziehen also in erster Linie keine anderen Menschen ein (wenn auch indirekt vielleicht schon). Mir ritualhaft selbst Gutes zu tun sorgt dafür, dass ich es überhaupt tue, denn sonst würde ich verloren gehen in den äußeren Anforderungen, die ich spüre und von denen ich glaube, dass sie allesamt eine sofortige und adäquate Reaktion meinerseits erforden. Insofern ist ein persönliches Ritual für mich ein Anker in einem manchmal undurchsichtigen Dschungel, aber doch mitnichten konservativ.

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  9. Rituale schaffen Wiederkehrendes. Wiedererkennbares. Bieten Sicherheit. Helfen dabei, nicht jedes mal die Quadratur des Kreises schaffen zu müssen.

    Rituale sind nicht schlichte Normierungen oder eingeimpfte Konventionen. Rituale sind nicht die weihnachtliche Selbstverpflichtung alle Verwandten abzuklappern. nicht alles, was sich wiederholt, ist ein Ritual.

    Rituale sind festgelegte Abläufe für bestimmte Situationen. sie lassen sich im Bereich Brauchtum ebenso verorten wie in Kleinstfamilien. sie werden bei der Therapie von Depression ebenso empfohlen wie beim Sport. sie machen Abläufe übersichtlich und absehbar. das gibt Sicherheit. jedem.

    wenn ein Ritual anders sein soll, dann rede drüber. alle dürfen in die Waagschale schmeißen, was ihnen wichtig ist und dann wird gemeinsam entschieden und vielleicht ein neues Ritual gefunden. ich kannte eine Familie mit Weihnachtsphobie. die fuhren am 24.12. demonstrativ zu McDonalds, weil der Papa Angst vor dem Familien-Horror-Trigger hatte. ist ein Ritual, das ihm zugestanden wurde, um sich nicht vor Heiligabend fürchten zu müssen. für mich eine schlimme Vorstellung. für die Familie eine Lösung.

    genauso wenig wie verinnerlichte Konvention bedeuten Rituale einen automatischen Verweis auf ein durchritualisiertes Leben.

    Dein Text mit den Verweisen auf genau zwei Quellen (*hust*) wird in meinen Augen niemandem gerecht. nicht mal Dir. er ist total aggressiv und wenig informativ. er ist nicht zu ende gedacht und ignoriert die Gegenseite. sollte er ein Rant sein: Volltreffer. sollte er aufklären: 6, setzen.

    Reflexion an dieser Stelle würde bedeuten, zu hinterfragen, was Dich wirklich so in Rage bringt. doch wohl nicht etwa der Adventskalenderstreit. das nehm ich Dir nicht ab. die Wut ist spürbar. guck Dir Deine Wut an. dann reflektierst Du und läutest NACH der Erkenntnis den Wandel ein. Rituale können scheiße sein, na sicher. aber dann reden wir von Inhalt und nicht von Form.

    nichts bietet mehr Sicherheit als der Wandel? dieser Text versinnbildlicht das Gegenteil. nichts bietet mehr Sicherheit als Homöostase.

    minusch

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