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Der Kapitalismus frisst seine Kinder

Die preußische ‚Tugend‘ des Gehorsams ist stark in der Linie der Generationen. Was einst als positive Kraft zur ‚Einigung der deutschen Länder‘ diente, bringt jetzt zum zweiten Mal seine hässliche Kehrseite der Medaille zum Vorschein.

Die Kleingeistigkeit, das Prinzip des Besitzes, der Machtsphären, der kurzfristige persönliche Vorteil – alles, was die Einheitsbestrebungen im neunzehnten Jahrhundert auslöste, blieb bestehen. Was beseitigt wurde, waren die sichtbaren Auswirkungen, nicht aber die Mechanismen, durch die Abhängigkeiten entstehen.

Die ersten Nazis

Nach der Weltwirtschaftskrise (Gruß an die Mechanismen) war die Verunsicherung im Weltkriegsverliererland groß, und wieder waren nicht die Mechanismen, die zu derartigen Zusammenbrüchen führen, auf der Liste der verbesserungswürdigen Zustände. Nein: Es wurden simple Antworten gesucht, eine Gruppe auserkoren, die als Schuldige auserkoren wurden, und die simplen Argumente blieben haften. Je größer die Verlustängste der Menschen, desto radikaler die Reaktionen.

Und statt sich den Ursachen zu widmen, formte sich ein Widerstand, der notwendig und wünschenswert, aber nichtsdestotrotz den Auswirkungen entgegengesetzt war, nicht den Ursachen: Kapital kennt keine Moral, juristische Personen haben kein Gewissen. Die Gewinnerzielung als oberster Zweck eines Wirtschaftssystems stellt eben diesen in den Mittelpunkt, nicht den Menschen. Mit allen gegebenen Konsequenzen.

Die neuen Nazis

Die Ähnlichkeiten zur Vergangenheit sind frappierend: Angst um den eigenen Lebensstandard bringt eine Menge Menschen dazu, einer Partei ihre Stimme zu geben, die das mehr und mehr offensichtlich nicht funktionierende System kritisiert. Und wieder werden Schuldige benannt, denen der Entzug des zu entgleiten drohenden Wohlstands zugedeutet wird. Nur dieses Mal sind die Ursachen etwas anders gelagert.

Der zur Disposition stehende ‚Wohlstand‘ ist über viele Jahrzehnte auf dem Rücken vieler verschiedener Gruppen aufgebaut worden. Jedes enorm günstige Stück Plastikspielzeug aus Fernost, jede 10-Euro-Jeans baut eine so verschleierte Schuld auf, dass es den Menschen einfach gemacht wird, die Augen vor der offensichtlichen Verarschung zur verschließen. Intransparente Liefer- und Produktionsketten, jede beteiligte juristische Person lagert die Verantwortung entlang der Kette wahrweise nach vorn oder hinten aus. Die inzwischen offensichtlich nicht funktionierende Einbahnstraßen-Argumentation des stetigen Wachstums, der auf Kosten Verdrängter funktioniert. Mit genügend Brot und Spielen parallel zur Ausnutzungsmaximierung von Menschen steigt die ungerichtete Frustration.

Angst essen Seele auf

Das eigene Besitztum, die Möglichkeit sozialen Abstiegs, die Abhängigkeit vom Verdienst bei Arbeitgeber – für den Kapitalismus ist Angst das effektivste Mittel zur Zielerreichung: Angst, nicht dazuzugehören. Angst vor Verlust. Angst vor Abstieg. Für – oder gegen – alles gibt es etwas zu kaufen. Wenn denn die Finanzen dafür vorhanden sind… und damit sie das sind: immer schön im Job bleiben. Bloß nicht aufmucken.

Dieses wundervolle Steuerelement des Absatzes, mit dessen Hilfe Menschen steuer- und erpressbar werden – berechenbar eben – es ist so verführerisch. Aber eben nicht nur, was die Vorhersagbarkeit für konsumtechnische Zwecke angeht: Auch die Rattenfänger verstehen das Prinzip. Und wenn es erst genügend simplifizierte Geister gibt, denen genügend Angst eingeimpft wurde – und diese merken, dass der Kapitalismus keine Antworten und keinen Trost bietet, dann kommt ihre Stunde. Denn die schnelle, einfache und verständliche Benennung der Schuldigen schafft ein Ventil. Realitätsverdrehung kennen alle zur Genüge, da fällt es einfach, nicht passende, widersprechende Argumente ins Abseits zu deklarieren. Das Gemeinschaftsgefühl der Verängstigten verstärkt sich mit jedem Versuch, sie zu denunzieren.

Und statt sich zu überlegen, ihre Steigbügelhalter und Rentenvorsorgen der Wirtschaft zu hinterfragen, reagiert die etablierte Parteienlandschaft reflexartig: mit Ausgrenzung. Aber hilft das gegen Verlustängste?

Was kommt da noch?

Der Knackpunkt ist: Die geweckte Erwartungshaltung, es solle jedem Menschen besser und besser gehen, so wie in der Wirtschaft nur das Wachstum zählt, ist eine böse Lüge. Was für jeden Einzelnen erstrebenswert sein mag, ist doch gesamtheitlich ein Unding, denn der Gewinn eines oder einer jeden geht zu Lasten eines oder einer anderen. Kurz: In dem Maße, in dem einige gewinnen, verlieren andere – seien es Menschen, Tiere oder die Umwelt – analog. Diese simple Gleichung in begrenzten Systemen, wie es die Erde ist, wird nur zu gern ausgeblendet

Klar verdient Waffenexporteur Deutschland prächtig – der Gewinn der Hecklers und Kochs wird später sozialisiert: unter denen, die in den Bürgerkriegsländern alles verlieren und denen, die mit ihren Steuern die Auswirkungen finanzieren. Klar werden Banken in der Krise mit dem Zigfachen der Aufwendungen für die „Flüchtlingskrise“ in wenigen Tagen „gerettet“ – das System Kapitalismus darf nicht kollabieren: davor hat auch die Politik Angst. Denn: Damit würden die Grundlagen der Macht erschüttert. Staaten möglicherweise nicht mehr steuerbar. Reaktionen nicht mehr erwartbar.

Und da liegt auch ein Grundproblem: Auch die Politik rechnet mit der Erwartbarkeit, der Möglichkeit der Schubladisierung von Menschen. Man stelle sich vor, für jede Entscheidung müssten Mehrheiten erst gewonnen werden, statt erwartet werden zu können…

Es fängt erst an

Gebt ihnen die Macht auf Basis der Mechanismen des jetzt und hier und ihr werdet Zustände des jetzt und hier bekommen. Die Spirale der Privatisierung von Gewinnen und der Sozialisierung der Verluste wird sich weiterdrehen. Und die Errettung durch die milden Gaben der Gewinner des Kapitalismus ist keine: Sie erwarten Folgsamkeit dafür, Dankbarkeit. Gehorsam.

Die Abhilfe ist ungleich fundamentaler: Die Relativierung des Prinzips von Besitz und Gewinnmaximierung, die Stärkung einseitig unterdrückter und klassischerweise wirtschaftlich nicht ’nutzbarer‘ Werte wie Empathie und Nächstenliebe, die Priorisierung des Wohls von Menschen und nicht der Wirtschaft – das ist notwendig.

Es gibt einfache Antworten. Die werden aber nicht helfen. Zehntausend Jahre zivilisatorischer Einseitigkeit lassen sich nicht in ein oder zwei Generationen ausbügeln.

Autor: steffen

Lebt. Liebt. Streitet.

29 Kommentare

  1. Karl Rotten

    14/03/2016 @ 7:25

    Du hast recht. Aber ist die Antwort ein Systemwechsel oder der Versuch, im bestehenden System das Menschenfreundlichste rauszuholen?

    Antworten

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