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„Mein erster Sommer ohne Tränen“

Es ist gerade mal zwei Tage her, dass Anne und ich den ersten Abend zu zweit auswärts, ohne unsere Kinder, genossen haben. Nochmal zwei Tage zuvor bot Annes Chef ihr und ihren Kolleginnen spontan an, Karten für ein Konzert von Nigel Kennedy mitzubringen – er wollte selbst hin. Und als meine Eltern die Zusage für’s Babysitten machten, konnte auch ich zusagen. Tief durchatmend, denn auf dem Programm standen die „Vier Jahreszeiten“.

Direkt nach dem Arbeitstag starte ich in Richtung Geigenbauwerkstatt – der Arbeitsstätte der Holden. Ich hab geplant, sie vor dem Konzert, das abends um acht beginnen soll, noch zu einem Essen auszuführen. Einem, das wir seit langem nicht mehr hatten: Pub Food.

Nostalgie

Bevor wir unsere Kinder bekamen, waren wir nahezu jährlich in Irland, unserer gemeinsamen Seelenheimat. Noch heute, mehr als 10 Jahre nach unserem ersten Besuch auf der Insel, schwärmen wir von den Freundschaften, die wir dort schlossen. Und mit diesen nostalgischen Gefühlen beginnen wir auch gleich den anstehenden Konzertabend: Statt einem Essen zu zweit lade ich spontan ihre beiden symphatischen Kolleginnen mit ein. Ob wir nicht allein essen wollen? „Wenn dem so wäre, hätte ich die Einladung nicht ausgesprochen“, zwinkere ich Salomé zu, einer der beiden.

Auch Judit, die zweite Kollegin, beschließt spontan, doch – wider ihre Müdigkeit – mitzukommen, und so landen wir kurze Zeit später bei einem Pint Guinness und Fish’n’Chips im ‚Irish Rover‘ unweit der Laeiszhalle, in dem das Konzert stattfindet.

Ziemlich satt und mit ordnungsgemäß geleerten Gläsern starten wir zum Konzert und sind pünktlich in unserer Loge, alle nebeneinander, auch der Chef Nikolaus, der uns schon erwartete.

Ein genialer, alter Punker

Der bald 60-jährige taucht im neongelben Shirt auf der Bühne auf und witzelt mit Publikum und den Musikern der St. Petersburger Kammerphilharmonie, spielt in der ersten Stunde erst mal eigene Kompositionen, die mich an den Rand der Gesichtsfeuchte bringen. Besonders ‚Dedication‘, ein absolutes Meisterwerk, das es hoffentlich in ähnlicher Besetzung nochmal auf einen Tonträger schafft, war wahnsinnig bewegend.

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Nach den eigenen Stücken ist erst mal Pause. Zeit, das Guinness wegzutragen und irgendwas aus dem lokalen Angebot nachzufüllen. (Edit: Liebe Verantwortliche der Laeiszhalle: Radeberger ist kein Bier. Schenkt doch was vernünftiges aus. Wie wär’s mit was lokalem? Duckstein zum Beispiel?) Ein kurzer Blick ins Publikum während des ersten Teils des Konzertes zeigt: Die sitzen verdammt ruhig dafür, dass das auf der Bühne so abgeht. Und: Was sind die alle farblos!

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Ich werde jedenfalls in der Warteschlange an der Bar fleißig gelesen und erfreue mich am selbstgewählten Titel „Zweitbuntester Bartträger des Abends“. Bis auf den Kontrolletti im Frack, der im maximal abfälligen Tonfall darauf hinweist, dass die Bierflaschen gefälligst die Loge zu verlassen haben, schlagen mir erfreulicherweise kaum distanzierende Haltungen ob meiner unkonventionellen Erscheinung entgegen.

Erster Sommer ohne Tränen

Schließlich ist es so weit: Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ stehen an, in der von Kennedy bearbeiteten Fassung. Und etwas Wundervolles passiert: Das erste mal seit 16 Jahren erlebe ich das Presto aus dem Sommer – das musikalische Sommergewitter – tränenfrei. Die fast kindliche Begeisterung des alten Mannes da vorn, sein sichtlicher Spaß an der Musik, sein Aufgehen in seiner Interpretation, sein Genießen des tosenden Beifalls zwischen den Sätzen (ja, zwischen den Sätzen!) – all das lässt einen alten Schmerz endlich in Freude übergehen. Und während der Herbst seinen Weg in mein Ohr findet, rollt das Salzwasser der Erleichterung und des Glücks über mein Gesicht, als ich mitten im Konzert einen einzigen Tweet absetze:

Alte Wunden

Was selbst Anne bis dahin nicht wusste: Hinter meinen heftigen Tränenausbrüchen bei den spezifischen dreieinhalb Minuten barocken Meisterwerks steckt eine kleine Historie.

An dem Tag, an dem ich anfangen musste, mein Versprechen an meinen Bruder einzulösen, fuhr ich mit dem Rad durch die Reste eines Sommergewitters. Der Geruch des frischen Regens, das Grummeln im Hintergrund des Tages, an dem er seine Augen für immer schloss, beides wohnt schier unendlich tief in mir.

Eines der drei Musikstücke auf seinem letzten Weg waren diese dreieinhalb Minuten. Eines unserer gemeinsamen Lieblingsstücke klassischer Musik lange vor seiner Erkrankung.

Seit seinem Tod war ich nicht mehr in der Lage, dieses Werk Vivaldis zu hören, ohne in Tränen auszubrechen.

Musik heilt

Der Punk der Klassik schaffte mit seiner Art, was mir mehr als ein Jahrzehnt verwehrt geblieben war: Freude an Musik zu empfinden, die ich auch und gerade mit schier unendlich traurigen Momenten meines Lebens verbinde.

Ich mag weit von einer Aufarbeitung dessen entfernt sein, was da in mir noch schlummert. Aber ein erster, wichtiger Schritt ist getan. Und ein Abend, der damit begann, die Freuden des Lebens mit Freunden zu teilen, endet für mich in einer so simplen wie wundervollen Erkenntnis.

Musik heilt.

Danke, Nigel.

Autor: steffen

Lebt. Liebt. Streitet.

41 Kommentare

  1. So wunderschön und berührend geschrieben. Mein Wunsch ist es auch, endlich bestimmte Lieder wieder mit etwas schönem assoziieren kann. Ich hatte die Hofgnung darauf eigentlich schon aufgegeben – dein Text macht mir Mut weiter zu hoffen, dass auch mir ein Wunder wiederfährt! Danke!
    Ich freue mich so sehr für dich.

    Liebe Grüße
    Mother Birth

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  2. Lieber PapaPelz! Die doch fur Dich recht ungewöhnliche Einfachheit Deines Beitrages die jeden Leser verstehen lässt, die Ehrlichkeit, die einen bei jedem Wort mitfühlen lässt, und die tiefe Trauer und doch gleichzeitige Erleichterung die Du hier vermittelst, haben mir die Tränen in die Augen steigen lassen. Lebe Dein Leben und sei froh darüber, dass Du jemanden an deiner Seite hast! Liebe. Nehme. Gebe. Und bewahre Dir den Schatz den Du jetzt hast. Genieße solange Du kannst. Und vergiss nicht zu leben! Vertraue darauf, dass es besser wird! Bewahre Dir die Lust am Leben und Lieben, denn sie sind es wert!!
    Eine dankbare Leserin!

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