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Gesellschaftliche Konventionen und Kinder

„Ich werde in den nächsten vier Jahren in der Regel täglich nach 15 Uhr nicht mehr für Termine zur Verfügung stehen.“

Im Job

Der Satz saß. Ich leite IT-Projekte, nicht die kleinsten. Die Premiumzeit für geschäftliche Treffen ist zwischen 9 und 17 Uhr. Verfügbarkeit darüber hinaus ist gern gesehen. Die volle Arbeitszeit werde ich trotzdem erbringen, schließlich kann ich dank freier Gleitzeit einfach früher beginnen. Und trotzdem die Fragen:

  • Gibt es denn keine andere KiTa mit längeren Öffnungszeiten?
  • Habt ihr Großeltern in der Nähe?
  • Kann deine Frau Teilzeit machen?
  • Phew, das ist ein Risiko für’s Projekt.

Ich frage mich: Wenn ein Projekt die Rücksicht auf die Bedürfnisse seiner Teilnehmer vernachlässigt, ist das nicht ein viel größeres Projektrisiko?

In der Familie

Kleine Kinder lernen Zusammenhänge. Sie brauchen Zeit, sich an Neuerungen zu gewöhnen. Ständige Ortswechsel und häufig wechselnde Personen sind enormer Stress, der entweder durch Einigelung oder durch entsprechende Unmutsäußerungen deutlich werden.

Und trotzdem, zu jedem vom Kalender diktierten ‚besonderen Ereignis‘, seien es Geburts- oder Feiertage, ist es wieder so weit: Natürlich sind die Erwartungen von vielen da, die Kinder zu sehen, und natürlich staucht sich dieses Interesse in einen oder wenige Tage.

Vereinbarkeit und die weite Ferne

Was soll ich von einer Einladung zu einem Jubiläumsessen halten, das mitten in der Zeit des Mittagsschlafs des Lütten anderthalb Autostunden entfernt von uns stattfinden soll, an einem Ort, der keine Kinderbetreuung anbietet (so dass man sich dem Jubilanten gebührend widmen könnte, wenn man denn zwischen all den anderen geladenen Gästen dazu kommt)? Wir haben gar kein Auto, aber sicherlich ließe sich eines besorgen. Die Kinder würden auch den Ausflug überstehen. Aber welchen tatsächlichen Mehrwert jenseits erfüllter Erwartungshaltungen bringt das? Wenn ich aus Rücksicht auf die Bedürfnisse der Kids absage, wen wird das alles zu welchen Regungen verleiten? Und wieviele davon berücksichtigen tatsächlich die Kinder angemessen?

Warum erwartet ‚die Gesellschaft‘, dass ich meine Kinder zu für sie konformen Menschen ‚erziehe‘? Warum stillen wir nicht einfach die natürlichen Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit, kindgerechter Anpassung von Umgebungsfaktoren? Lasst den Kindern die Freiheit, sich zu entwickeln, wie es ihrer Art entspricht.

Das ist keine ‚unendliche Geschichte‘

Die Kinder werden älter. Ihre Adaptionsraten schneller. Ihre Fähigkeit, ihre Bedürfnisse selbst kundzutun, besser. Lasst ihnen doch ihre Geschwindigkeit, ihre Neigungen, ihre selbst gesammelten Erfahrungen. Und bis dahin bin ich als ein Elternteil eine der zwei Personen, die definiert, wie sich die Einflussfaktoren gestalten. Das ist mein höchstpersönlicher Verantwortungsbereich, den ich jeden Tag ein kleines Stück lockere und abgebe.

An das Kind.

PS: Irgendwann mögen die Kinder mehr Leute in kürzerer Zeit sehen, verkraften mehr Wechsel im Leben: Und nur zu bald wird euch diese Geschwindigkeit zu hoch sein. 😉

PPS: Mir vermutlich auch. Und das ist gut so. Denn es zeigt mir, dass sie dann ihr Leben und Tempo selbst festlegen. 😉

Autor: steffen

Lebt. Liebt. Streitet.

82 Kommentare

  1. Sehr guter und wichtiger Text! Wir müssen anfangen, die Bedingungen für unsere Arbeitskraft zu diktieren, auch wenn es anfangs unmöglich erscheint. Nicht nur den 17 Uhr-Termin ablehnen, sondern dafür kämpfen, dass er auf 14 Uhr gelegt wird. Und dieses „die Kinder können doch mitkommen“ kenn ich nur zu gut: es geht eben nicht, die Kinder haben ihr eigenes Leben, ihre Bedürfnisse, ihren Rhythmus, und das ist in den allerwenigsten Fällen, als Begleitung zu Geschäftsterminen stramm zu stehen, sondern kuscheln toben singen klettern spielen.

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    • Wir haben das ‚Mitnehmen‘ auf dem barcampHH im letzten November probiert. Fazit: Weder Anne noch ich haben eine einzige Session so mitbekommen, dass wir ihr uns ungestört widmen konnten. Erst als der Bub mit der Mama auf dem Heimweg war, habe ich meine Session mit voller Aufmerksamkeit halten können.
      Ich bin geneigt, das vielfach positiv genannte CCC in Sachen Kinderbetreuung/Vereinbarkeit Ende des Jahres zu testen. Also dann das 33c3.

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  2. Ich verneige mich zutiefst vor Dir, daß Du den Mut aufbringst im Job so etwas zu sagen. Und ich wünschte mir, alle deutschen Arbeitnehmer würden aufstehen und sagen: nicht mit uns. Um 17h sind wir nicht mehr produktiv.
    Zum Thema „die Kinder irgendwohin mitnehmen“ denke ich, es kommt auf das Kind, den Ort und die Veranstaltung selbst an. (Meiner Meinung nach)
    Ich habe K2 schon mit 3 Monaten auf einer Fortbildung dabei gehabt. K3 konnte ich nirgendwo mit hinnehmen, es hat unterwegs einfach den Schlaf verweigert und ständig dazwischengekräht. Man braucht immer irgendwie ein Backup mit Kindern. Das ist anstrengend.

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  3. Das hast du gut schrieben. Ich kann es nachvollziehen. Und doch machen wir es anders. Aber das ist auch okay. Es sollte ja jeder so machen, wie er es machen möchte. Und wie die Kinder es brauchen. Und wie es selbst zu einem passt und in das Leben, was man führt bzw. wie man es führen möchte.

    Ich finde es super, dass du das dem Arbeitgeber (hoffentlich!) auch zeigen konntest, dass es dir wichtig ist. Und das er mitgeht. Bei uns wäre das schwer. Bzw. es würde darauf ankommen, in welcher Abteilung man arbeitet, aber das ist es ja oft…

    Und im Privatleben können wir das auch nachvollziehen. Zur Zeit genießen wir den Luxus, dass die Großeltern direkt mit uns im Haus leben. Und das bedeutet, dass es für uns noch einfach ist am Wochenende mal mit Freunden ins Kino zu gehen. Aber auch da haben wir schnell gesagt: Bitte nicht mehr die Vorstellung um 20 Uhr, sondern die späte um 22 Uhr. Kein Problem – sie treffen sich vorher und gehen was essen. Wir kommen dann nach, wenn es mit dem Kind passt. Denn wir legen ihn hin, bringen ihn normal ins Bett. Und erst dann wird unten bescheid gegeben, dass wir weg sind und die haben ein Ohr auf das Kind. Wobei sie bisher (zum Glück!) nie weiter einspringen mussten. Weil unser Kind oft einfach schläft, wenn er schläft. Und wenn es ein blöder Tag war, dann geht keiner – oder nur einer…

    Aber wir nehmen den Sohn auch oft mit. Keine Ahnung, wie das mit zwei Kindern sein wird. Bisher macht es ihm nichts aus. Keine Wutanfälle. Kein geweine. Kein einigeln. Und so durfte er auch schonmal mit zur Lieblingspatentante und Onkel in Spé die Einweihnungsparty in der WG mit feiern („nur bis 23 Uhr) und er durfte auch mit den Studentenabschluss der Patentante mit feiern („nur“ bis 22 Uhr und hat die hälfte verschlafen). Bei uns ist das also recht einfach. Und doch auch nur, weil unser Sohn das so super mitmacht. Klar braucht er seine Phase um warm zu werden, aber dann gehts ab. Dann wird drauf losgechekert, bis es kein halten mehr gibt.

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    • Liebe Steffi,

      einst raunte mir unsere Hebamme zu, dass – wenn wir etwas anders haben wollen – wir es einfach anders machen sollten.

      Ich mach einfach. 😉

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