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Finding re:publica 2015

Von außen: Größer, lauter, mehr, sichtbarer, präsenter.

Von innen: Professioneller, vertrauter, routinierter, müder.

Ich werde das Gefühl nicht los. Dabei bin ich ein Fan der re:publica. Es ist ein bisschen wie, ja – wie dieser laue Sommerwind, der mit einem gewissen Schwermut und Schwüle trotz gleißendem Sonnenschein der erste Vorbote des kommenden Gewitters ist.

Die re:publica ist gewachsen. 7000 Gäste, aus jedem zweiten Land Europas, SpeakerInnen von jedem Kontinent.

Sie ist einem Abbild der Gesellschaft ähnlicher, als sie es jemals war: Mehr graues Haar – und zwar nich nur von altbekannten Gästen -, mehr Kinder, 43 bzw. 44% Frauen im SpeakerInnen- bzw. Gästebereich. Und auch thematisch wird die deutlich: Relevante Themen aus allen Bereichen des Lebens: Forschung, Politik, Technik, Erziehung, Medien, Kunst, Kultur, Liebe, Leben, Sterben. Alles dabei.

Und doch, so scheint es, ist und bleibt die re:publica bei aller medialen Aufmerksamkeit mehr eine Dokumentation der Situation denn eine Beeinflussung. Judith Horcherts Mutter bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt, dass die „alle viel zu brav“ sind.

TAG 1

Forderungen, Druck, Machtstreben, kurz das, was es bedarf, um im bestehenden System eben selbiges zu ändern, kommen seltsam kurz. Die türkische Sozialwissenschaftlerin İdil Elveriş bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt, dass sie die Macht nicht will, weil es die Gefahr der Angreifbarkeit und des Missbrauchs mit sich bringt.

Die Häusslers starten mit einem neu gegründeten Verein eine Initiative, um dem Rant der #rp13 Taten folgen zu lassen und der Rückwärtsgewandtheit des Bildungssektors mit einer eigenen Initiative für die Vernetzung der Jugend unter Druck zu setzen. Dass ist gut und wichtig, und es wird – bei Gelingen – in einigen Jahren Früchte tragen. Ob sich das Prinzip verstetigt, wird sich zeigen. Entgegen der (beruflich meist sowieso gebotenen) Reisefreudigkeit der Erwachsenenwelt dürfte eine zentrale Veranstaltung bundesweit zu reichlich Ausschlusskriterien für die Anteilnahme breiter Gruppen von Jugendlichen führen. Hier liegt noch viel Arbeit begraben, die es in nächster Zeit zu konzipieren gilt.

Markus Beckedahl und Leonard Dobusch visualisieren mein Gefühl mit dem Tal der Enttäuschung und prophezeihen die mittelfristige Wirksamkeit der Einflussnahme auf eine Reihe von Netzthemen. Einzig wie „wir“ diesen Einfluss gelten machen und „unseren Anliegen“ Ausdruck verleihen können, bleibt wie die Jahre zuvor auch nebulös.

Wie ignorant und teilweise bewusst täuschend die Politik dem zu vertretenden Souverän gegenüber auftritt, zeigte Andre Meister eindrucksvoll in seiner Session „Lügen für die Vorratsdatenspeicherung“. DAS Rezept gegen die allgegenwärtige Überwachung gibt es nach wie vor nicht.

Und wie die Wirtschaft sich im neoliberalen Umfeld die Restemotionalität von Menschen zunutze macht, zeigte ein IKM, der sich Michelle Apate nannte: Gewerbsmäßiger, systematischer Betrug auf Onlinedating-Portalen.

All hail the money.
Es gilt, die „Investition in den Wirtschaftsstandort Deutschland zu schützen“, die „Wirtschaft zum Wohle der Bevölkerung zu stärken“, „die Rahmenbedingungen für ein prosperierendes Europa zu optimieren“.
Alles, das nicht direkt dem Menschen dient, dient dem Menschen so gut wie gar nicht, sondern nur wenigen mit Einfluss.

Dieses diffuse Gefühl ist es auch, was die Rattenfänger von Pegida und Co. nutzen können, um ihrerseits ‚klare Kante‘ zu fordern und damit auf Stimmen- (AfD) und Menschenfang (*gida, HoGeSa etc.) zu gehen. Wie das geht, zeigten Julia Schramm und Laura Piotrowski.

TAG 2

Natürlich lässt sich mit den aktuellen Enwicklungen – egal, ob es sich um Fiskal-, Asyl- oder Netzpolitik, um Handelsabkommen oder Spionage im ganz großen Stil – und der entsprechenden Nutzung der Daten durch Politik, Behörden und nicht zuletzt durch die Wirtschaft ein einigermaßen dystopisch-angsteinflößendes Bild zeichnen. Das dann zu nutzen, um für ein Security-Produkt auf Stage 1 zu werben, fand ich jetzt eher so medium geil. Presented by f-secure.

Dass die re:publica groß genug geworden ist, um selbst programmatisch getrollt werden zu können, bewiesen Rebecca Cotton und Dirk Franke eindrucksvoll mit einer Session rund ums Angeln – Trolling eben.

Wie Weltpolitik gestaltet werden kann, in dem Kriege vorhergesagt (und damit verhindert, aber eben auch gestartet werden können) werden können, wurde parallel zur gewiss beeindruckenden Performance vom Astronauten Alex vorgestellt. Unter Umständen hätte ich mir diesen Mindfuck nicht antun sollen, denn Vorhersagbarkeit von Verhalten lässt sich nach den mir ziemlich vertrauten Prinzipien der Psychohistorik (aus der Foundation-Romanwelt von Isaac Asimov) aushebeln, wenn man sich bewusst wider die Regeln verhält. Was andererseits wiederum antizipiert werden könnte und damit erst dieses Verhalten ausgelöst haben könnte – und so weiter, und so fort.
Was mir tatsächlich in der Session ein wenig fehlte, war das Hinterfragen der Notwendigkeit solcher Vorhersagbarkeiten und die Verknüpfung der inzwischen massiv vernetzten Daten weltweit mit den entsprechenden seit Snowden bekannt gewordenen Spionagepraktiken. (Update folgt, sobald das Video online ist.)

https://re-publica.de/session/predicting-war-minority-report-meets-world-politics

An dieser Stelle zog ich für mich die Reißleine im Programm. Der laue Sommerwind war inzwischen einer gediegen schwülen Luft gewichen, und die ersten Feedbacks von Dritten zeigten, dass ich bereits länger durchgehalten hatte – sehr beliebig, sehr undifferenziert, inhaltlich zu diversifiziert und nicht konzentriert genug, kurz: alles zu generisch und damit beliebig.

Um mir selbst ein wenig Hoffnung zu besorgen, besuchte ich den Talk mit Josh aus Hamburg, den ich bereits vom Barcamp Hamburg kannte. Neben ihm waren noch zwei weitere Jugendliche sowie Geraldine vom Team der re:publica auf der Bühne, um über das Medienverständnis und die Nutzung in der Altersgruppe der Teenager zu diskutieren. Das half. Und ich bin nicht der einzige, der den Talk als empfehlenswert klassifiziert.

TAG 3

Ein zweiter Lichtblick des „wie soll das mal in Zukunft laufen?“ lieferte die fabelhafte Journelle. Liebe hat in der Tat wenig mit Monogamie zu tun, und all die verwirrend wundersamen und doch zugleich schrecklich normalen Konsequenzen daraus hat sie in einen sehr unterhaltsamen Beitrag zusammengefasst. Und ebenso konsequent zuendegedacht wie vorgetragen war auch die Verweigerung, eine persönliche Referenz dazu zu ziehen.
Die braucht’s nämlich nicht.

Einen Ausflug in die Dystopien wagte ich doch noch, auch wenn ich das nach einer halben Stunde wieder abbrach: Wenn Enno Park darüber berichtet, dass er – weil er’s kann – gern mal mit einem Backup-Implantat für sein Cochlear Ultraschall hören möchte, dann befremdet mich das zunächst ein wenig, aber sei es ihm gegönnt, wenn er meint, er müsse das. Geht es jedoch in die Denkrichtung von Ray Kurzweils „Menschheit 2.0„, dann steige ich aus.
Es mag sein, dass es Bestrebungen gibt, den Menschen zu „perfektionieren“. Eine Borg-Zukunft ist für mich allerdings nicht akzeptabel. Ein friedliches Miteinander von Singularität und „wilden Menschen“ ist dem Prinzip der Singularität nach nämlich ausgeschlossen.

Fazit

Wenn ich denn eines zusammenfassen kann, dann: Die Menschen retteten diese re:publica 2015 für mich. Wäre dies meine erste gewesen, ich wäre nicht wiedergekommen.
Es war die Schicht, die ich am Montag in der Akkreditierung der Speaker übernahm und mit Pauli und Tobi Großteile meiner Twitter-Timeline begrüßen durfte. Es war die Diskussion über die Schwierigkeiten im ehemaligen Jugoslawien mit einer Betroffenen (in einer Runde von 13). Es war der Abend, an dem das mit dieser „gleichen Wellenlänge“ gespenstisch gut lief. Es war das Kennenlernen einiger, denen ich bisher nur digital über den Weg lief. All das war „meine“ #rp15. Und nicht zuletzt die Kulinarik, organisiert von Peter, die Freunde und neue Bekanntschaften miteinander verwob.

Ich werde wiederkommen. Denn so einem lauen, später schwülen Lüftchen folgt irgendwann dieses reinigende Gewitter, nach dem es mit der Welt und dem Drumherum weiter geht. Es mag einiges auf der Strecke bleiben, aber das tut vielleicht auch einer re:publica ganz gut.

Autor: steffen

Lebt. Liebt. Streitet.

5 Kommentare

  1. Hey!

    Zunächst mal meine Hochachtung, dass Du so kurz nach Deiner Rückkehr ein solches Resümee zusammenzimmerst. Mögest Du den dadurch vernachlässigten Schlaf nachholen können. 🙂

    Ich erlaube mir aus der Ferndiagnose allerdings eine Einschränkung, die nichts mit den jeweiligen Sessions im Gesamten oder mit der Stimmung im Besonderen zu tun hat:

    Nicht nur die republica ist müder geworden. Mit jedem Jahr werden wir es auch ein wenig mehr. Das hat gar nichts mit der „Früher war alles besser-Lamentiererei“ zu tun, die ich immer ein wenig belächle, weil sie von einem Konservativismus zeugt, den ich zumindest an dieser Stelle der Gesellschaft für überwunden geglaubt habe. Nein, es hat vielmehr mit der eigenen Wahrnehmung zu tun. Kurz erläutert:
    Das erste und für die meisten ziemlich überwältigende „Oh! Da sind ja noch jede Menge anderer Menschen, die auch so sind wie ich /auch das denken was ich denke/ auch das machen, was ich mache! Krass!!“-Gefühl, oder das Familiäre einer Gemeinschaft, bei der man selbst die meisten mit Namen kennt, ohne ihnen je begegnet zu sein, oder das Innovative, das die vorgestellten Thesen und/ oder mitgebrachten technischen Spielzeuge umgibt ist einem wesentlich schärferen, selektiveren Filter gewichen. Bunt, laut, voll, Quadrocopter, berühmte Menschen aus dem Internet oder den anderen zu vernachlässigenden Medien zum Anfassen – das lenkt nicht mehr ab, das ist das rp-Hintergrundrauschen, das man bereits kennt, jetzt geht es um die Inhalte. Dass die Dich oft ziemlich enttäuschen, verstehe ich mehr als gut. Meinem diesbezüglichen rp14-Frust (Ich nenne ihn mal den lobischen „Wir wissen das alles und trotzdem bewegt sich nichts“-Frust) entgegnete ein sehr kluger Mann:
    „Das, was wir da anstoßen wollen, sind gesamtgesellschaftliche Prozesse. Die kosten jede Menge Zeit. Und das frustriert.“

    Wenn ich es recht bedenke, hast Du das gesagt, Steffen. 😀
    Möglicherweise sind 2 1/2 Jahre zu wenig. Möglicherweise reichen auch 5 Jahre nicht. Und wenn sich der Wind dreht, vielleicht bringt er kein Gewitter, sondern langsames, schrittweises Umdenken einer breiteren Gesellschaftsschicht.
    Möglicherweise erleben wir das auch gerade, sehen es aber nicht, weil unsere Filter …
    naja, you got the point.

    Danke, ganz vielen Dank für die Empfehlungen zu den Sessions! Das hilft den Daheimgebliebenen doch sehr. 🙂

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    • Liebe Juna,

      vielen Dank für deine ausführliche Replik! 🙂
      Im Grundsatz hast du Recht, wenn du sagst, dass „wir“ mit der Zeit den anfänglichen Enthusiasmus ob des Kennenlernens vieler Menschen „aus diesem Internetz“ zurückfahren und den Hintergrundlärm als das ignorieren, was er ist.
      Mir fehlte jedoch etwas. Und zwar etwas grundsätzlicheres: Kein Lobo frustete rum, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die re:publica ist der Ort, an dem Forderungen gestellt werden müssenm nur hier ist das Forum vertreten, und natürlich müssen Forderungen in Reinform ergehen, die Kompromisse kommen schon noch früh genug.
      Keine Session mit einer grundlegend anderen Weltsicht (mal abgesehen von der Perspektive von AstroAlex), wie es die Amish auf der #rp14 aufzeigten. Keine Session á la „Lasst uns die Suchalgorithmen ad absurdum führen“, wie sie auf der #rp13 zum Nachdenken anregte.
      Und, wie es Cloudette so schön formulierte: Als „Business-Mess“e ist die re:publica dem Anspruch nicht gewachsen, die Gesellschaft zu reflektieren. Business ist sich der Natur nach zunächst selbst am Nächsten, alles andere – inklusive der Menschen, denen das Business dient, folgen auf den Plätzen.
      Ich hab meine Ungeduld ja auch in meinem Post über die unerträgliche Langsamkeit des Seins verwurstet, aber das war tatsächlich nicht mein Gefühl bei dieser #rp15.
      Und was die Session-Empfehlungen angeht, fehlen übrigens noch mindestens Felix Schwenzel und seine Kognitiven Dissonanzen sowie Juna und ihre Gummibärchen. 😉

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  2. Danke für deinen Bericht. Ich war das 1. Mal da und sehe das so ähnlich, wie ich ja auch im Blog geschrieben habe. Selbst die Begeisterung des „oh-da-sind-ja-viele-nette-Leute-aus-dem-Internet“ konnte das nicht abfangen.

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    • Sollten sie weiter ein „Business-Event“ sein wollen, werd ich wohl zukünftig auch nur noch den Klassentreffen-Faktor mitnehmen. Ohne Ticket. Berlin only, quasi. (Oder halt gleich zuhause bleiben und am Jahresende dem CCC eine zweite Chance geben. 😉 )

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  3. Pingback: Es ist ein…Papa! | Teilzeitpazifismus im Lernmodus

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