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Zwei Herzen…

…schlagen in deiner Brust. Zwei Herzen, nur nicht im selben Rhythmus.

 


Klee — Zwei Herzen

Ein letztes Wiedersehen

Ich mag dieses Lied. Genau wie ich schon mit meinem früheren Pseudonym, dem Teilzeitpazifisten ausdrücken wollte, dass es zwei Seiten in mir gibt. In diesem Zwiespalt badend machte ich mich heute mit dem lütten Sohnemann auf den Weg in die KiTa, auf das wir uns in voller Familienstärke mit den Erzieherinnen des Fleischbärchens zum Elterngespräch treffen.

Der nüchterne Pragmat in mir packte das Kind fünf Minuten vor der Zeit in den Wagen, lud das Altglas eine Etage tiefer ein und leerte letzteres mit 20m Umweg auf dem Weg in die KiTa in die Sammelbehälter.

Der Empath focht derweil sogar in vierfacher Ausführung mit sich selbst:

  • piss den Erzieherinnen nicht ans Bein, die können nix dafür
  • schütze deine Frau, die ja am liebsten schon vor dem Gespräch heute davongelaufen wär
  • denk an die Bedürfnisse des Kindes
  • was willst du selbst eigentlich?

Parallel dazu war heute der vorletzte Tag von der gefühlten Nummer 4 des Fleischbärchens, das nach Mama, Papa und dem kleinen Bruder sich ausgerechnet die scheidende Erzieherin als Hauptbezugsperson auserkoren hat.

Ich kam trotz Umweg ein paar Minuten früher an (wer mich kennt, weiß, dass das in der Häufigkeit eines Weltzyklus‚ vorkommt) und begann das Gespräch mit der Frage nach dem gestrigen Abschiedsgeschenk, dem Ausflug der Kinder in den Wildpark ‚Schwarze Berge‘. Nach ein paar Minuten trafen auch die Mama und das Corpus Delicti ein.

Die Großwetterlage: durchwachsen

Auftakt: Wieso wollen wir ein Elterngespräch? Was ist das Ziel? Welche Optionen gibt es? Wir haben unseren Auftritt nicht generalsstabmäßig geplant, keine hypothetischen Antworten antizipiert, keine darauf folgenden Erwiderungen. Wir haben beschlossen, uns auf unser Gespür für die Situation zu verlassen, uns mit den Menschen auseinanderzusetzen, die die beiden Erzieherinnen nun mal sind.

Wir sprechen die großen Abenddramen, fast täglich mehrere Stunden lang und sanges- sowie lautstärkeintensiv, an. Die Bedenken bezüglich des Mittagsschlafs, ohne den wir im Verlauf unseres Urlaubs trotz täglichen Intensivprogramms positive Erfahrungen gesammelt haben. Die Antwort auf die mutmaßliche Lösung des Problems – ein Wechsel in die Elementargruppe – wird umgehend negiert: „Die Gruppen sind voll. Selbst wenn wir wollten, ein Wechsel ist nicht möglich. Es sind bereits 35 Kinder von der Warteliste abgewiesen worden“.
Die bereits erwähnte Standardformel ‚Morgen muss ich niss in den Kindergarten, ja?!‘ wird mit leicht deprimierten Gesichtszügen kommentiert, das Erstaunen darüber hält sich allerdings in Grenzen. „Zuletzt waren die Abschiede wieder ein wenig komplizierter, ja, aber nach wenigen Minuten in der Gruppe ist das vergessen und wie weggeblasen. Sie spielt mit den anderen Kindern fröhlich und ausgelassen. Wenn ich das Gefühl hätte, dass sie sich unwohl fühlen würde, oder schlimmer noch, dass sich das Verhalten vom Verabschieden über den Tag fortsetzt, hätte ich längst von unserer Seite aus um ein Gespräch gebeten.“ Das war spürbar aus dem Herzen – zwischendurch kam das Fleischbärchen liebevoll auf eine Streicheleinheit bei der Erzieherin vorbei, und ihr Gesichtsausdruck dabei unterstrich das Gesagte: Ihr liegt das Kind am Herzen.

Bedenken retour

Der Konter fährt an, die beiden sind augenscheinlich nicht sicher, was unser Ziel ist. Wollen wir die Tochter in die Elementargruppe bekommen? Oder die Zeit kürzen? Oder es ganz rausnehmen? Sie können sich nicht sicher sein, wie sollten sie auch – wir wissen es selbst nicht.
Die Sprache kommt auf die Freundschaften des Fleischbärchens. Ein Faktum, das ich bisher so überhaupt nicht berücksichtigt hatte. Für diese Rücksichtslosigkeit ohrfeige ich mich innerlich. Vor allem vor dem Hintergrund, dass meine engen Freunde für mich den gleichen Stellenwert haben wie der innerste Familienkreis: wie kann ich das bei der Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Tochter so ausblenden?
Der Mittagsschlaf sei kein Schlaf, sondern eine Ruhe. Das Tochterherz bilde mit einem weiteren Kind die „wir halten uns gegenseitig wach, sind dabei aber leise“-Fraktion. Nicht immer, aber durchaus regelmäßig. Zudem gebe es ja keinen Schalter, mit dem die Kinder auszustellen seien. Auf diesen simplen Schluss bin ich auch noch nicht selbst gekommen. Separation ist in der KiTa im Gegensatz zu zuhause ja nicht drin.
Die Umwälzungen im Leben der sensiblen Tochter, die binnen kurzer Zeit auf sie einprasselten, seien zudem eine ziemliche Belastung und Herausforderung, die verarbeitet werden müsse: Die Schnuller weg (auf die sie seeehhhr fixiert war), quasi ohne Übergang töpfchentrocken, das noch ausstehende, bewusste und kontrollierte Kacken – für uns banale Dinge, die für Zweijährige eine ganz schön schwerwiegende Umstellung sind.

Die von uns angesprochene, mit einem zweifachen Nicken bedachte Äußerung, unser Kind sei ziemlich sensibel, wird noch für einen anderen Aspekt ins Feld geführt: Nach dem Mittagsschlaf werden die ersten Kinder abgeholt, was die Tochter sehr genau beobachte. Sie sei sich durchaus bewusst, dass der kleine Bruder mit der Mama allein zuhause sei, davon können wir ausgehen, heißt es.

Flashback deluxe

Ich bin noch im Gespräch anwesend, lausche aber mehr in mich selbst hinein als den Ausführungen der Mama in Bezug auf die logistischen Schwierigkeiten bei Abholung vor dem Mittagsschlaf und den zeitlichen direkt danach, da der kleine Bruder zu der Zeit schlafe.

Ein kleiner Junge, fünf oder sechs Jahre alt, sitzt mit glimmender Hoffnung, einem ungewissen Zeitgefühl, das einen quälend langsamen Nachmittag erlebt, wie ein halbes Häufchen Elend an dem Tisch im Raum der Hasengruppe. Das zehrende „Wann kommt sie endlich?“ brennt wie ein unangenehmes Hungergefühl an einer Stelle, die der kleine Junge nicht orten kann. Er sieht Eltern kommen und mit anderen Kindern wieder gehen. Noch viel weniger vermag er es auszudrücken, was ihn so unsichtbar, so still leidend bedrückt. In einem beeindruckend intensiven Flashback sitzt der kleine Junge als Vater am Tisch, auch mehr als 30 Jahre später unfähig, diesem Mischmasch aus Traurigkeit, Sehnsucht und Unverständnis über den Liebesentzug mit würdigen Worten Ausdruck zu verleihen.

Meine zwischenzeitlich entstandene Zurückhaltung ist so deutlich, dass die Erzieherin zum K.O.-Schlag ausholt: Man sehe mir mein Unglück an. Sie wisse nicht, was es ist, aber selbst sie sehe es.

Hochmut versus Demut

Wenn ich denn so fürchterlich empathisch wäre, wie ich es mich selbst gern glauben machen mag, wie kommt es dann, dass ich meine Tochter eben jener unbeschreiblichen Melange aus traurig-melancholischen Gefühlen aussetze, wie ich sie einst erlebt und empfunden habe, wie ich sie noch heute durch ein einfaches Gespräch offensichtlich abrufen kann? Ohne auf die Idee zu kommen, den Aspekt mal aus der eigenen Kindheit Revue passieren zu lassen?

Ähnlich dem Stadium, in dem ich mich befand, nachdem ich beim Wunschkind einen beeindruckenden Artikel über beißende und schlagende Kinder las, empfinde ich Demut. Und ähnlich diesem Zustand bin ich der Überzeugung, dass ich meinem Kind aufmerksamer begegnen sollte, Nicht nur auf der motivatorischen Ebene, sondern auch auf der der Empfindsamkeit.

Den Tränen nahe danke ich den beiden für das Gespräch. Sie sind in allem, was ich in dem knappen Jahr KiTa kennenlernen durfte – und da ich die Eingewöhnung übernahm, war das etwas mehr – authentisch und liebevoll den Kindern gegenüber. Die wirtschaftliche Notwendigkeit, das Kind unbedingt in der Krippengruppe zu halten, die gibt es nicht, das ist nicht ihr Motiv. Es gibt definitiv genügend Nachfrage hier im Ort, das haben wir schmerzlich persönlich kennengelernt. Ihre Motivation ist ihre Passion. Das Leben für und mit den Kindern. Und dafür bin ich beiden zutiefst dankbar.

Was nun?

Dass die KiTa für die Tochter ein Grundübel mit vorwiegend negativen Erfahrungen sei habe ich schon vorher nicht geglaubt. Wäre dem so, hätte ich kein Gespräch gesucht, sondern der Leitung mitgeteilt, dass das Kind nicht mehr komme. Ich vertraue der Einschätzung der Erzieherinnen, dass es dem Kind vormittags durchweg gut geht. Dass die Abschiedszeremonie – die ja auch einige Wochen daraus bestand, dass sie einem ohne Zurückschauen lapidar mit der Hand nach hinten winkte, zu den anderen Kindern sprintete und nicht mehr gesehen ward – ein den Umstellungen, dem Urlaub, den Krankheitsfehltagen und nicht zuletzt unserer eigenen steigenden Unsicherheit geschuldetes Unterfangen ist. Das kleine Sensibelchen merkt das natürlich, das glaub ich sofort.

Wir werden vorerst die Tochter bis zu den Sommerferien in knapp 3 Wochen nach dem Mittagsschlaf abholen. Darunter leidet potenziell der Tagesrhythmus des Lütten, dessen Mittagsschlaf je nach gusto unterbrochen oder verschoben werden muss. Wir werden uns die Entwicklung der Gemütslage unserer Großen genau ansehen.

Parallel dazu unterstützen wir meine Eltern, schnellstmöglich hierher zu ziehen. Damit ergeben sich noch andere Abhol- oder Schlafbetreuungsoptionen für die Große bzw. den kleinen Bruder.

Mit Beginn des neuen KiTa-Jahres werden wir entscheiden, ob die Verkürzung des KiTa-Tages in die Verlängerung geht oder wir das Experiment vorzeitig beenden.

Die Gefühlslage

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Dunkle Wolken mit nahezu Regengarantie bei Sonnenschein im Vordergrund – ein hervorragendes Sinnbild für den Gesprächsverlauf: Ich erwartete, aufgrund der angesprochenen Probleme den Erzieherinnen mehr oder weniger unmissverständlich zu sagen, dass wir das Kind aus der KiTa nehmen werden. Ich wollte es vor dem Unwetter der negativen Eindrücke verschonen. Die Alternative erschien im Vergleich dazu sonnig: Mit passender stundenweiser Betreuung und/oder einer Haushaltshilfe klappt das schon.
Aber erwischt mich denn dieses Unwetter tatsächlich? Der Wind schließlich negierte ebenso wie jegliche Frisurversuche meinerseits diesen Denkansatz: Er wehte heftig – und von hinten.

Hinter mir war Sonnenschein, blauer Himmel. War das gröbste vielleicht schon vorbei? Kommen vielleicht jetzt die sonnigeren Tage, weil die großen Verwürfnisse im Leben einer Zweijährigen fast ausgestanden sind?

Und nochmal eine Relativierung: Wie komm ich auf den Trichter, das Kind vor Wetterlagen gleich welcher Couleur beschützen oder es anderen aussetzen zu wollen? Vielleicht ist es am sinnvollsten, die Kinder zu begleiten; ihm zu zeigen mit jedem Wetter so umzugehen, wie es die äußeren Bedingungen erfordern. Und sonst einfach mal zu lauschen, zu empfinden, sich hineinzuversetzen in die kleinen Seelen, in eine Sichtweise auf die Welt aus ihrer Perspektive. Für es da zu sein.

Mit den Sinnen, dem Verstand, dem Herzen – und dem Vermögen, die Welt öfter einmal aus ihrer Perspektive zu sehen.

Autor: steffen

Lebt. Liebt. Streitet.

46 Kommentare

  1. zwei herzen. und zwei seiten. ich kenn mich noch zu gut daran erinnern, dass ich den „luxus“ genoss, nachmittags zuhause sein zu können, und dort auch den (dringend benötigten) mittagsschlaf hielt. mit dem ergebnis allerdings, dass morgens (!) etliche kinder nicht mit mir spielten, weil ich nachmittags nie da war… (mir war der schlaf jedoch offensichtlich als die vermeintliche freundschaft gleichaltriger)

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