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Lernziel: Leben. Wenn die Schulung zur Nebensache gerät

Neulich auf Fortbildung: Papa Pelz möchte seine beruflichen Qualifikationen aufpeppen und besucht ein dreitägiges Seminar – „Verhandeln lernen“ steht auf dem Plan. Ziel der Aktion war, die fast täglichen Verhandlungssituationen im Büro professioneller anzugehen.
Die bisher erlebten Schulungen – egal, ob es um Kommunikation oder Work-Life-Balance ging – hatten bei mir bisher durchweg positive Erinnerungen hinterlassen. Von neuen Freundschaften ganz zu schweigen. Würde es diesmal wieder so sein?

Wir starteten in voller Besetzung zu elft – 10 TeilnehmerInnen und Trainer Christian. In der munteren Vorstellungsrunde outete ich mich auch direkt als Gleichberechtigungsfetischist, hauchte zart Kapitalismuskritik in den Raum, durfte mein Shirt vom Barcamp Hamburg erklären und war somit schubladentechnisch fix verortet: ‚Bloß keinen Chauvi-Kram in seiner Gegenwart‘, so scherzte der Trainer. Dass ich nicht genau einordnen konnte, ob er das tatsächlich scherzhaft meinte, merkte er glaub ich. Meine Nachfrage, was ihn zu Beginn seiner Laufbahn ausgerechnet zum Reemtsma-Konzern trieb, war denn auch meiner Unsicherheit geschuldet, was ich denn nun die nächsten drei Tage zu erwarten hatte.

Auf der anderen Seite: Wer bin ich, dass ich einen derartigen Schritt verurteilen könnte? Immerhin hab ich mich siebeneinhalb Jahre ausgerechnet im Discount bei Lidl verdingt. Also: Hinhören, hinfühlen. Und den Menschen annehmen, wie er ist.

Intensivprogramm

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Tag 1 startete um 10 Uhr morgens, der Ort – ein dezentral gelegenes Landhotel außerhalb von Mölln, noch im Einzugsbereich des Hamburger Verkehrverbundes – erlaubte mir eine Anreise, die erst kurz vor 8 Uhr startete. Inklusive Verabschiedung von den Kids, was mir besonders entgegen kam, nachdem meine Nächte vorher schon nicht so prall gefüllt mit Vorfreude waren, dass ich sie einige Tage nicht sehen würde.

Nach dem gegenseitigen Kennenlernen, das allein die Hälfte des ersten Tages und sehr viel Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, gingen wir nach einem theoretischen Teil zu den Phasen einer Verhandlung direkt über in die Übungspraxis.

Als erstes stand ein Rollenprogramm auf der Agenda, anschließend die Auswertung davon. Die zwei gebildeten Teams sollten sich darauf vorbereiten, zwei Beobachter anschließend Feedback geben, Trainer Christian war „Spielleiter“. Und nach Ablauf der Zeit für diese erste Übung sagte er:

„Eigentlich kann ich jetzt dann auch aufhören. Ihr habt all das gemacht, was in einer Verhandlung erforderlich sein sollte: Strukturieren, Visualisieren, Rollen verteilen, unvoreingenommen und offen in den Austausch gehen, Lösung suchen, finden, festhalten, verschriftlichen.“

Was ein Lob! Nur eben standen die spannenden Fälle noch aus – Praxisfälle von uns Teilnehmenden, die wir teils vorbereitend, teils als Aufarbeitung bereits gelaufener (und teilweise böse verfahrener) Gespräche inklusive Videoanalyse durchgehen wollten.

Doch davor stand noch das erste Abendessen der rustikalen, aber gemütlichen Unterkunft.

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Daneben noch ein wenig mehr Kennenlernen, Austausch mit einer wunderbar divergenten Runde mit Menschen aus lauter unterschiedlichen Unternehmensbereichen. Und danach: Licht aus.

Augenhöhe? Wo?

Tag 2 verspricht viel Verhandlungspraxis: Die ersten drei der insgesamt sechs Fälle, die aus unserem Input nachgestellt werden, stehen auf der Tagesordnung. Schon beim Sammeln fällt mir auf: Im Grunde genommen ähneln sich die „schwierigen“ Verhandlungspartner aus den Fällen: Dominante, oft in der Hierarchie über einem stehende Personen zwischen 40 und 50 Jahren, häufig männlich, die sich wahlweise auf wenig/keine Kompromisse einlassen oder aber wie Teflon alles an Konkretem an sich abperlen lassen.

Ich drifte innerlich ab. Worum geht’s auf dieser Schulung nochmal? Darum, sich in solchen Verhandlungsfällen nicht beirren zu lassen, adäquat mit seinem Gegenüber umzugehen, den „win-win“ auf Augenhöhe mit dem Verhandlungspartner zu erreichen. Aber will das Gegenüber das auch? Oder stecken da andere Motivationslagen dahinter?

Mein Auge fällt auf die Trainingsunterlage:

„Sie bekommen nicht das, was Sie verdienen, sondern was Sie verhandeln!“

Das klingt nicht mal ansatzweise danach, als ob man von Augenhöhe ausgehen sollte, von Gleichwertigkeit: Das liest sich eher, als ob das Gegenüber für sich das Maximum erreichen möchte ohne große Rücksicht auf die Verhandlungspartnerin. Wo bin ich hier? Will ich das überhaupt? Und warum zur Hölle sind die „Problemfälle“ alle ähnlich? Werden so Charaktere mehr oder weniger systematisch in der Hierarchie von Unternehmen gefördert?

Erst mal frische Luft schnappen.

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Nach dem erneut leckeren Essen geht es weiter – unter anderem mit einem Fragebogen zu den „Antreibern“ – was ist meine Motivation, mich so zu verhalten, wie ich das tue? Schon dder Untertitel des Bogens motiviert meinen Blutdruck zu einer Steigerung: „Diese Aussage trifft auf mich in meiner Berufswelt zu:“ steht da, und ich frage mich, ob es denn normal oder gar gewünscht sei, dass man sich bei der Erwerbsarbeit abweichend davon verhält, als man es im privaten Umfeld macht. Die Formulierung allein lässt darauf schließen, dass es mindestens im Kopf des Fragebogenerstellers (und der stammt nicht von unserem Trainer, wie er mir gleich versicherte) Unterschiede zu geben scheint.

Bei den Fragen geht es munter weiter. Ich zitiere ein paar Bonmots:

  • „Ich habe eine harte Schale und einen weichen Kern. Den darf man aber in der Berufswelt nicht zeigen.
  • Ich strenge mich an, meine Ziele zu erreichen. Nur was hart erarbeitet ist, zählt.
  • Anderen gegenüber zeige ich meinen Schwächen nicht gern. Ich erscheine stark; nur keine Blöße geben.
  • Meine Gefühle gehen andere nichts an. Ich muss stark sein, wer Gefühle zeigt, ist schwach.
  • ‚Auf die Zähne beißen‘ heißt meine Devise. Denn ein Indianer kennt keinen Schmerz.“

Absolutismen, Rassismen, Platitüden. Was für eine beschissene Definition des Wortes „Stärke“ schwebt da durch den Raum? Auf welche Einseitigkeiten sollen Menschen mit so einem Scheiß reduziert werden?

Und gleichzeitig wird mir eines klar: Wer diesen kruden Maßstäben von Stärke und Kraft entspricht, kann es in dem patriachalisch getragenen System weit bringen. Großteile des Fragebogens lesen sich wie eine kleine Anleitung zum Fahrradprinzip: Nach oben bücken, nach unten treten.

Mit diesem obskuren Verständnis kann ich wenig anfangen, weswegen das Wesensmerkmal „sei stark“ bei mir den stärksten Ausschlag hat – nach unten.

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Wenn diese Merkmale Stärke sein sollen, dann will ich damit wenig zu tun haben. Stärke ist für mich, Schwäche zu zeigen. Denn nur dann kannst du deinem Gegenüber authentisch erscheinen, oder?

Generalprobe

Auch eine bei mir bevorstehende Verhandlung findet Einlass in die Runde der Praxisfälle, die wir exemplarisch proben. Und trotz Videoaufzeichnung habe ich nach zehn Sekunden nicht nur die Kamera, sondern auch die 9 verbliebenen Beobachter ausgeblendet.

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Neben einem Haufen konstruktiver Hinweise in Sachen Gesprächsführung, Inhalt, Detailsgrad und Verhalten lerne ich eines: Im Fall des Falles ist meine größte Herausforderung, die Augenhöhe selbst zu wahren, statt mich in die rezessive Rolle des Bittstellers zu begeben.

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Der Tag ist rum, mein Akku alle. Für die Restentleerung sorgt ein wundervolles Abendessen (heute mit Rotwein) mit der nach wie vor heterogenen Truppe, deren Lebenseinstellungen herrlich weit auseinandergespreizt sind: Vom grünen Bezirkspolitiker über den eine Führungslaufbahn anstrebenden Nachwuchs, die frisch Vermählte bis hin zu den Singles der Runde: zwanzig Jahre Unterschied. Und einer lustigen Diskussionsrunde, die sich rund um die aktuellen Dating-Rituale entzündet: Gehst du noch in Kneipen, oder tinderst du schon? Oder sollte es heißen „Tinderst du noch oder gehst du lieber wieder in Kneipen?“

Praxisfälle der anderen Art

Ich verabschiede mich und beschließe, dieses moderne Daten selbst mal auszuprobieren.

Das verspricht Unterhaltung. So ganz Digital Native bin ich dann doch nicht mehr, jedenfalls nicht nach einer guten halben Flasche Wein:

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Naja. Doch lieber mal Nachruhe.

Finale

Der letzt Tag enthält neben weiteren Praxisfällen, in denen sich das vermutete Muster der systemisch dominant und Einseitigkeit lebend gezüchteten verhärtet, noch ein wenig Theorie zu Projektion und Übertragung („Der sieht genauso aus wie das Arschloch aus der Oberstufe damals. Den kann ich nicht ab.“). Als Sahnehäubchen folgt noch die Erkenntnis, dass die Argumente gerade mal 7% des Vermittelten ausmachen – der Rest verteilt sich gleichsam in Paraverbalien (Stimme, Dialekt, Räuspern, Satzbau, usw.) und Nonverbalien (Aussehen, Kleidung, Figur, Auftreten, Mimik, Gestik, usw.). Dann ist mein Sender voll.

Ich stehe mehr vor der Frage: „Wie will ich sein?“ als vor der Quintessenz des Lehrgangs „Wie verhandle ich besser?“. Und das hat einen einfachen Grund:

Verhandlungen sind nicht dazu da, seine eigenen Ziele zu erreichen.
Sondern das Optimum für alle direkt und indirekt Beteiligten.

Und ich stelle fest: Lieber nehme ich ‚Niederlagen‘ bei Verhandlungen in Kauf, verankere dafür aber konsequent die Selbstverständlichkeit, unabhängig von der eigenen Position in einer Hierarchie sachbezogen und selbstbewusst so aufzutreten, wie ich bin. Denn nicht der Glättegrad meiner Kleidung, nicht die Aktualität der Rasur sind entscheidend für die Qualität meiner Argumente: letztere sprechen für sich.

Das werden auch die letzten Apologeten der Hierarchiegläubigkeit irgendwann feststellen dürfen.

Lernkurve

Ich habe gelernt. Verhandeln, ja. Aber darüber hinaus noch einiges mehr:

  • Die Gesellschaft krankt gern an positivierten Einseitigkeiten im Berufskontext.
  • Die Probleme hinsichtlich vernünftiger Verhandlungsergebnisse entstehen häufig durch Besitzstandswahrungsgelüste von Menschen in Machtpositionen: bevorzugt männlich, mittleren Alters, hierarchiegläubig.
  • Tinder ist – je nach Standpunkt – eine „Fickapp“ oder „eine Plattform zum Kennenlernen“.
  • Je entfernter die eigenen Standpunkte, desto höher der Erkenntnisgrad beim Unterhalten miteinander.

Ich hab Freunde gewonnen. Und ich freu mich auf die verschiedentlichen Wiedersehen mit diesen bunt-unterschiedlichen Charakteren, von denen sich während der drei Tage die meisten eben genau nicht einseitig präsentierten.

Sondern als Menschen.

Autor: steffen

Lebt. Liebt. Streitet.

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